Vakuum im Kopf: Wie kognitive Dissonanz die Marktstraße erfand
In Loitz wird eine Bürgersprechstunde zur Bühne kollektiver Angst. Ohne Beweise, aber mit starken Bildern entsteht ein Narrativ, das eine Straße in ein Symbol verwandelt – ein mentaler Brennpunkt im Kopf, nicht auf der Straße.

Kapitel 6: Analyse: Das Problem entsteht im Kopf
Wenn wir an diesem Punkt innehalten und zurückschauen, zeigt sich eine klare Linie: In der Marktstraße selbst ist nichts passiert, das die Dimensionen rechtfertigen würde, die im Amtsgericht heraufbeschworen wurden. Keine Morddrohungen in den Akten, keine brennenden Barrikaden, keine Serie schwerer Delikte. Was bleibt, ist das Vakuum – und wie es gefüllt wurde.
Das eigentliche „Problem“ ist also nicht draußen vor den Türen, sondern drinnen im Kopf. Menschen haben die Diskrepanz zwischen Behauptung und fehlendem Beweis nicht ertragen können. Also nahmen sie das Gesagte als Wahrheit an, sprachen es nach, verstärkten es. Mit jeder Wiederholung wuchs der Eindruck, dass hier etwas Größeres im Gange sein müsse.
In dieser Dynamik tritt ein Mechanismus hervor, den man überall beobachten kann, wo Erzählung wichtiger wird als Nachweis: Das Vakuum der Fakten wird nicht aufgelöst, sondern verdrängt. Es wird überspielt, überdeckt, zugeschüttet mit Worten. Die Erzählung selbst tritt an die Stelle des Belegs, des Unstrittigen.
Die Marktstraße ist damit ein Musterbeispiel für diese Verschiebung. Sie zeigt, wie ein Ort zur Projektionsfläche werden kann. Jeder bringt sein eigenes Bild ein – Angst, Ärger, Abneigung –, und all das sammelt sich in einem Straßennamen. Von einem physischen Brennpunkt kann keine Rede sein. Was entsteht, ist ein mentaler Brennpunkt: eine Konzentration von Vorstellungen, die stärker wirkt als jede Zahl im Polizeibericht.
Und genau das ist die eigentliche Sprengkraft: Probleme im Kopf sind nicht leichter zu entschärfen als Probleme in der Realität. Im Gegenteil: Sie sind oft hartnäckiger, weil sie sich Belegen entziehen. Wer glaubt, etwas sei gefährlich, lässt sich durch das Fehlen von Beweisen kaum umstimmen – denn das Vakuum selbst wird als Beweis gedeutet: „Wenn nichts zu sehen ist, dann wird es schon vertuscht.“
Damit verschiebt sich das Problem: Nicht die Straße, nicht die Häuser, nicht die Bewohner sind das Zentrum der Auseinandersetzung. Sondern die Köpfe, die das Bild der Marktstraße tragen und weiterspinnen.
Inhaltsverzeichnis der Serie
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Teil 1: 1 · 2 · 3 · 4 · 5 · 6 · 7
Serie »Kognitive Dissonanz im öffentlichen Raum«
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- Teil 1 – Vakuum im Kopf: Wie kognitive Dissonanz die Marktstraße erfand
- Seite 1/7 — Kapitel 1: Die Szene im Alten Amtsgericht
- Seite 2/7 — Kapitel 2: Psychologischer Rahmen – Kognitive Dissonanz im Lernmodus
- Seite 3/7 — Kapitel 3: Erste Stimmen – die Geburt des Narrativs
- Seite 4/7 — Kapitel 4: Verstärkung durch Wiederholung
- Seite 5/7 — Kapitel 5: Die Verschiebung – Vom realen Vorfall zum symbolischen Ort
- Seite 6/7 — Kapitel 6: Analyse – Das Problem entsteht im Kopf
- Seite 7/7 — Kapitel 7: Schluss – Vom Lernprozess zur Eskalation
- Teil 2 – Die Inszenierung: Wie Politik und Medien aus der Erzählung Realität machten
- Seite 1/8 — Kapitel 1: Der Weg vom Saal auf die Bühne
- Seite 2/8 — Kapitel 2: Offizielle Räume als Fürsprech
- Seite 3/8 — Kapitel 3: Politische Aneignung und Taktgebung
- Seite 4/8 — Kapitel 4: Medien als Multiplikator
- Seite 5/8 — Kapitel 5: Landespolitische Bühne
- Seite 6/8 — Kapitel 6: Symbolische Transformation
- Seite 7/8 — Kapitel 7: Analyse – Die Macht der Inszenierung
- Seite 8/8 — Kapitel 8: Schluss – Vom Symbol zur Dominanz der Wahrnehmung
- Teil 3 – Die Entzauberung: Fragen, die zurück zur Wirklichkeit führen
- Seite 1/7 — Kapitel 1: Vom Symbol zurück zur Sache
- Seite 2/7 — Kapitel 2: Der Fragenkatalog als Instrument
- Seite 3/7 — Kapitel 3: Transparenz durch offenen Verteiler
- Seite 4/7 — Kapitel 4: Auflösung der kognitiven Dissonanz
- Seite 5/7 — Kapitel 5: Die Grenze der Erzählung
- Seite 6/7 — Kapitel 6: Analyse – Fragen als Gegengift
- Seite 7/7 — Kapitel 7: Schluss – Was bleibt?
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