Ein Konzept mit Zukunft - Integratives Schülerpraktikum im Fotoatelier

Ein zweiwöchiges Praktikum für ukrainische Jugendliche im Fotoatelier Loitz wird zum Modell gelingender Integration: mit einfacher Sprache, klarer Struktur und sichtbaren Ergebnissen. Teil I zeigt, wie die Sprache Brücken baut – und was Schulen daraus machen können.

Sep 21, 2025 - 18:22
Sep 21, 2025 - 18:59
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Kapitel 4: Warum „Theorie zuerst“
Ein Atelier im Schattenspiel: Zwei Praktikanten am Tisch, Kamera, Staffelei, Lampe – eine stille Szene kreativen Arbeitens, entspannt und zielführend.
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Kapitel 4: Warum „Theorie zuerst“

Man könnte meinen, ein Praktikum sollte möglichst praktisch beginnen – am besten gleich mit Kamera in der Hand. Doch in diesem Fall war der Weg ein anderer. Ganz bewusst. Denn bevor man etwas gut machen kann, muss man verstehen, was man da eigentlich tut. Deshalb stand am Anfang nicht das Machen, sondern das Verstehen.

Warum diese Entscheidung getroffen wurde, was sie möglich gemacht hat – und warum sie mehr gebracht hat als man auf den ersten Blick sieht – darum geht es in diesem Kapitel.

Sprache ist eine Hürde und Fachbegriffe sind schwer

Von Anfang an war klar: Sprache ist mehr als nur ein Mittel, um sich abzusprechen. Sie war die eigentliche Herausforderung. Denn selbst wer im Alltag schon erste Wörter auf Deutsch versteht, stößt schnell an Grenzen, sobald es um Fachbegriffe geht.

Wörter wie „Blende“, „ISO“, „Weißabgleich“ oder „Datenschutz“ sind nicht nur neu, sie klingen oft fremd, unverständlich – oder sie bedeuten im Alltag etwas ganz anderes als im technischen Zusammenhang.

Solche Begriffe können leicht ausgrenzen. Besonders dann, wenn sie einfach so genannt werden, ohne Erklärung. Wer nicht folgen kann, fühlt sich schnell unsicher. Und wer sich unsicher fühlt, zieht sich oft zurück – ganz leise, ohne dass es jemand gleich merkt.

Deshalb war früh klar: Bevor wir mit Kamera oder Ton arbeiten, muss eine gemeinsame sprachliche Grundlage gelegt werden. Ein Raum,

  • in dem man Fachwörter nicht bestehen muss, sondern
  • in dem sie erklärt, ausprobiert und gemeinsam verstanden werden,
  • in dem man nachfragen darf, ohne sich zu schämen,
  • in dem Wiederholen dazugehört,
  • und in dem es erlaubt ist, ein Wort zu vergessen – ohne das Gefühl zu haben, man sei nicht gut genug.

In den ersten Tagen zeigte sich sehr deutlich: Sprache ist nicht nur Werkzeug. Sie schafft auch Stimmung. Wenn sie verstanden wird, entsteht Vertrauen. Wenn sie überfordert, entsteht Distanz. Und genau das wollten wir vermeiden.

Theorie schafft ruhige Räume – Zeit zum Erklären, Zeit zum Wiederholen

Sobald man in die Praxis geht, wird vieles schnell. Es entstehen Abläufe. Entscheidungen müssen getroffen werden. Man muss reagieren, mitdenken, umsetzen. Das kann spannend sein – aber eben auch anstrengend. Vor allem dann, wenn die Sprache noch fremd ist und die Umgebung ungewohnt.

Theorie schafft einen anderen Raum. Einen ruhigeren. Einen, in dem man erst einmal klären kann, worum es eigentlich geht. Was ein bestimmter Begriff bedeutet. Warum man eine Sache so und nicht anders macht. Und wie sich alles miteinander verbindet.

Im Praktikum war die Theorie kein trockener Pflichtteil. Sie war bewusst als Schutzraum gedachtals ein Ort, an dem man langsamer denken durfte. Hier konnten wir Inhalte in Ruhe anschauen, Beispiele finden, Begriffe besprechen. Fehler gehörten dazu. Sie galten nicht als Störung, sondern als Teil des Lernens.

Wiederholung spielte dabei eine große Rolle. Denn wer neu ist in Sprache und Inhalt, braucht mehr als eine Erklärung. Manches blieb am ersten Tag noch unklar – und konnte am dritten oder fünften Tag wieder aufgegriffen werden. Ohne Druck. Ohne Wertung.

So wurde die Theorie nicht zum Gegensatz zur Praxis. Sondern zu einer festen Grundlage. Eine Bühne, auf der Verständnis wachsen durfteSchritt für Schritt, in zwei Sprachen, mit Zeit und mit Geduld.

Sicherheit & Recht – zuerst verstehen, dann anwenden

Sobald man eine Kamera auf Menschen richtet, geht es nicht mehr nur um Technik oder Bildgestaltung. Es geht auch um Verantwortung. Darf ich diese Person überhaupt aufnehmen? Muss ich vorher fragen? Und was genau bedeutet es eigentlich, wenn jemand „Ja“ sagt?

Gerade im schulischen oder pädagogischen Bereich dürfen solche Fragen nicht nebenbei behandelt werden. Sie gehören in den Mittelpunkt. Denn Neugier auf Technik ist gutaber sie darf nicht über das hinweggehen, was rechtlich wichtig ist.

Deshalb war früh klar: Es gibt keine Aufnahmen von Personen, bevor diese Themen besprochen wurden. Bevor ein Bild entsteht, muss Klarheit herrschen.

Was ist mit dem Datenschutz? Was bedeutet das „Recht am eigenen Bild“? Wo verlaufen Grenzen – und wie spürt man, wann man sie berührt?

In der Theorie war Raum für all diese Fragen. Ohne Zeitdruck. Mit Beispielen. Und immer in zwei Sprachen, damit niemand ausgeschlossen ist.

Dabei ging es nicht um juristische Fachbegriffe, sondern um ganz praktische Überlegungen: Was heißt das für mich? Was ist erlaubt – und wo wird es heikel?

Erst wenn diese Grundlagen wirklich verstanden sind, kann die Kamera zu einem Werkzeug werden, das verbindet – und nicht verletzt.

Erst verstehen, dann machen – so wächst Mut

Wer etwas wirklich verstanden hat, traut sich eher, es auszuprobieren. Dieser einfache Zusammenhang war die Grundlage für den Aufbau des Praktikums. Denn Mut entsteht nicht durch Druck. Er wächst, wenn man sich orientieren kann. Wenn man nicht einfach etwas tun soll, sondern weiß, worum es geht.

Die Theorie war dabei der Anfang. Sie ermöglichte einen Einstieg, der nicht überfordert. Einen Raum, in dem man sich annähern konnte – ohne sofort etwas leisten zu müssen. Man konnte zuhören, mitdenken, nachfragen. Auch mal still bleiben. Und trotzdem lernen.

Im Atelier zeigte sich schnell: Mit jeder geklärten Vokabel, mit jeder kleinen Skizze, mit jedem Wort, das im richtigen Moment passte, wuchs das Zutrauen. Die Blicke wurden sicherer. Die Fragen genauer. Die Entscheidungen klarer.

So entstand Schritt für Schritt ein Boden, auf dem praktische Arbeit möglich wurdenicht hektisch, sondern gezielt. Aus Verstehen wurde Handeln. Und aus Handeln entstand ein Gefühl: Ich kann etwas bewirken.


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