Marktstrasse - Maß und Staub - Zyklus in sechs Akten (Monolog)

Ein dokumentarischer Monolog über Sprache, Ordnung und Verantwortung. Basierend auf realen Vorgängen in Loitz. Ein Zyklus in sechs Akten - zwischen Zuschreibung und Beleg, Wiederholung und Widerstand. Nicht Fiktion. Nicht Urteil. Sondern: Strukturiertes zum Sehen.

Jul 23, 2025 - 10:29
Jul 23, 2025 - 10:31
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Akt I: Das Urteil
Allein im Raum. Kein Urteil. Kein Applaus. Nur: Gegenwart, die sichtbar wird, wenn niemand mehr für andere spricht.
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Akt I: Das Urteil

16. April 2025.
Eine Sitzung. Ein Mikrofon. Ein Protokoll.
Die Bürgermeisterin spricht von einer Familie –
nicht beim Namen, sondern in Kategorien.
„Großfamilie mit Migrationshintergrund.“

Ordnung müsse wieder greifen, sagt sie.
Lärm. Müll. Versicherungsfragen.
Es klingt nüchtern – wie ein Verwaltungsakt.
Und doch fällt etwas mit: ein Schatten.

Noch am selben Tag erscheint ein Artikel.
„Großfamilie sorgt für Ärger.“
Kein Protokoll, kein Abgleich, kein Zitat.
Nur: Ärger.

Was fehlt, fällt nicht auf:
Keine Akte der Polizei.
Kein Beleg für Gefährdung.
Keine Bestätigung der Bauaufsicht.

Im Gegenteil:
Die Häuser – modernisiert.
Die Wohnungen – bewohnbar.
Die Lage – ruhig.

Doch der Begriff war gefallen:
„Belastung.“
Und mit ihm: ein Urteil.
Ohne Verfahren.

Das Maß ist gesetzt.
Nicht durch Beweise – sondern durch Sprache.
„Regelbruch.“
„Integration gescheitert.“
„Unruheherd.“

Noch kein Verfahren, kein Gutachten, keine Zahl –
aber schon ein Narrativ.

Wer schützt, wenn Sprache zuschlägt?
Wer prüft, wenn Zustimmung schneller ist als das Gesetz?
Wer trägt, wenn Vertrauen geopfert wird –
auf dem Altar der Ordnung?

Die Ordnung – sie kommt nicht als Lösung.
Sie kommt als Erwartung.
Und die Straße – Marktstraße –
wird zur Bühne.

Nicht für Aufklärung.
Sondern für Wiederholung.

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