7-Gedanken: Als Fotograf über die Beurteilung von Fotografie

Fotografie ist mehr als nur ein Abbild – sie ist Kunst, Handwerk und Ausdruck. In 7-Gedanken »Als Fotograf über die Beurteilung von Fotografie« erkundet der Autor die Vielfalt der Fotografie. Eine Einladung, Bilder bewusster zu sehen und ihre Geschichten zu entdecken.

Nov 24, 2024 - 16:49
Nov 24, 2024 - 18:45
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Gedanke 4: Kunstportraits als kreative Ausdrucksform
Die Kunst in der professionellen Fotografie liegt darin, bei Passbildern den Anforderungen gerecht zu werden und abzuliefern.
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Gedanke 4: Kunstportraits als kreative Ausdrucksform

Die künstlerische Portraitfotografie eröffnet eine Welt, in der ich mich als Fotograf frei entfalten kann, um Bilder zu schaffen, die mehr sind als bloße Abbilder einer Person. Sie erlaubt es mir, den Menschen vor meiner Kamera auf eine Weise sichtbar zu machen, die über seine äußere Erscheinung hinausgeht. In jedem Gesicht steckt eine Geschichte, eine Persönlichkeit, eine einzigartige Ausstrahlung – und es ist mein Ziel, all das in ein Bild zu übersetzen. Dabei gibt es keine starren Vorgaben oder Regeln. Jedes Porträt entsteht aus einem Dialog zwischen mir und der porträtierten Person. Meine Sichtweise als Fotograf verschmilzt mit den Vorstellungen und Wünschen meines Gegenübers, und gemeinsam schaffen wir etwas Einzigartiges.

In der künstlerischen Porträtfotografie sehe ich jede Person als Individuum, das auf ganz eigene Weise porträtiert werden möchte. Jedes Gesicht, jeder Blick, jede Haltung trägt eine Botschaft, die es zu entdecken gilt. Doch das Bild entsteht nicht im Alleingang. Es ist ein Prozess, der durch Austausch und Zusammenarbeit geprägt ist. Im Gespräch mit der Person vor meiner Kamera lerne ich, welche Facetten ihre Persönlichkeit betonen möchte. Manchmal entdecke ich dabei Eigenschaften, die sie selbst nicht bewusst wahrgenommen hat – eine leise Nachdenklichkeit, eine spielerische Leichtigkeit oder eine Stärke, die in bestimmten Momenten durchscheint. Diese Details nehme ich in mein gestalterisches Konzept auf, um sie auf eine Weise sichtbar zu machen, die authentisch und tiefgründig ist.

Ein Beispiel aus meiner Arbeit zeigt, wie wertvoll dieser Dialog sein kann. Eine Musikerin beauftragte mich, ein Porträt für das Cover ihres Albums zu erstellen. Sie wünschte sich ein Bild, das ihre künstlerische Seele widerspiegelt, hatte aber keine klare Vorstellung davon, wie das umgesetzt werden könnte. Während unserer Gespräche erzählte sie mir von ihrer Musik: melancholisch, poetisch und voller tiefer Emotionen. Ich wollte, dass diese Stimmung im Porträt spürbar wird. Gemeinsam entschieden wir uns für eine schlichte Kulisse, die nicht von ihr ablenkt, und ein weiches, sanftes Licht, das ihre nachdenklichen Züge betonte. Um die Verbindung zu ihrer Musik zu verdeutlichen, habe ich ihre Hände bewusst in die Bildkomposition eingebaut – als Symbol für die Instrumente, mit denen sie ihre Melodien zum Leben erweckt. Das Ergebnis war ein Bild, das nicht nur ihre äußere Erscheinung zeigte, sondern auch die emotionale Tiefe ihrer Kunst widerspiegelte.

Solche Momente sind für mich das Herzstück der künstlerischen Porträtfotografie. Ein gelungenes Porträt erzählt immer eine Geschichte – manchmal die der porträtierten Person, manchmal eine neue, gemeinsam entwickelte Bildsprache. Licht und Schatten spielen dabei eine entscheidende Rolle. Sie formen die Stimmung und verleihen dem Bild Ausdruck. Ein gezielt gesetzter Schatten auf einer Gesichtshälfte kann Geheimnisvolles oder Nachdenklichkeit hervorrufen, während ein klares, helles Licht Offenheit und Lebendigkeit betont. Genauso wichtig sind Farben – oder deren bewusste Abwesenheit. Ein monochromes Bild kann eine zeitlose Eleganz vermitteln, während gezielte Farbakzente Aufmerksamkeit lenken und Emotionen verstärken. Jede Entscheidung, die ich treffe, trägt dazu bei, die Botschaft des Bildes zu formen.

Auch die Perspektive und das Format des Bildes spielen eine zentrale Rolle. Eine Aufnahme auf Augenhöhe schafft eine direkte Verbindung zwischen Betrachter und Portraitiertem, während eine leicht erhöhte Perspektive Stärke und Selbstbewusstsein betonen kann. Eine Aufnahme von unten wiederum kann Verletzlichkeit oder Demut ausdrücken. Diese Entscheidungen treffe ich nie willkürlich, sondern stets im Hinblick darauf, welche Aussage das Bild haben soll. Diese bewusste Gestaltung macht die künstlerische Portraitfotografie für mich so besonders. Sie verlangt nicht nur technische Perfektion, sondern auch die Fähigkeit, eine Geschichte zu erzählen, die die Persönlichkeit des Gegenübers einfängt und gleichzeitig Raum für Interpretation lässt.

In der künstlerischen Porträtfotografie überschreiten wir oft die Grenzen der reinen Fotografie. Die Bilder bewegen sich an der Schnittstelle zu anderen Kunstformen. Ich finde häufig Inspiration in der Malerei, besonders in den Werken alter Meister wie Rembrandt, deren Lichtführung und Farbgebung eine unvergleichliche Tiefe besitzen. Auch der Jugendstil, mit seinen symbolischen Elementen und seiner Ausdrucksstärke, beeinflusst meine Arbeit. Doch nicht nur die Malerei, auch Literatur und Musik spielen eine Rolle. Ein melancholisches Musikstück kann die Atmosphäre eines Porträts prägen, oder die Figuren eines Romans können mich dazu inspirieren, bestimmte Emotionen einzufangen. Diese interdisziplinären Verbindungen machen die künstlerische Porträtfotografie zu einem besonders reichen und vielfältigen Feld, in dem sich verschiedenste kreative Einflüsse vereinen.

Doch bei all der gestalterischen Freiheit bleibt die größte Herausforderung, die Balance zu halten. Einerseits möchte ich meine persönliche Handschrift einbringen und das Bild zu einem Kunstwerk machen, das meine ästhetische Sichtweise widerspiegelt. Andererseits darf ich nicht vergessen, dass das Porträt in erster Linie die Persönlichkeit der abgebildeten Person repräsentieren soll. Es ist ein Balanceakt zwischen Zurücktreten und Inszenieren, zwischen dem, was ich sehe, und dem, was mein Gegenüber zeigen möchte. Diese Balance zu finden erfordert Feingefühl, Geduld und den Mut, gestalterische Entscheidungen zu treffen, die das Porträt über das Gewöhnliche hinaus heben.

Ein gelungenes künstlerisches Porträt ist für mich eines, das den Betrachter innehalten lässt. Es stellt Fragen, ohne sie immer beantworten zu müssen. „Wer ist dieser Mensch? Was fühlt er in diesem Moment?“ Ein solches Bild lädt dazu ein, über das Sichtbare hinauszugehen und eigene Geschichten zu erfinden. Es schafft eine Verbindung zwischen dem, der vor der Kamera steht, dem, der das Bild betrachtet, und mir als Fotograf, der diese Begegnung ermöglicht hat. Ein künstlerisches Porträt ist mehr als ein Foto – es ist ein Fenster in eine andere Welt.

Abschließend bleibt zu sagen, dass die künstlerische Portraitfotografie für mich eine der faszinierendsten Ausdrucksformen meiner Arbeit ist. Sie gibt mir die Freiheit, kreativ zu sein, mich auf die Menschen vor meiner Kamera einzulassen und gemeinsam mit ihnen etwas Einzigartiges zu schaffen. Jeder Auftrag ist wie eine Reise, bei der ich den perfekten Moment suche – eine ideale Verbindung von Licht, Ausdruck und Komposition. Diese Arbeit erinnert mich immer wieder daran, dass Fotografie nicht nur ein Handwerk ist, sondern auch eine Sprache, die Geschichten erzählt, Emotionen sichtbar macht und Menschen miteinander verbindet. In dieser Zusammenarbeit liegt für mich die wahre Schönheit der künstlerischen Porträtfotografie.


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