7-Gedanken: Als Fotograf über die Beurteilung von Fotografie
Fotografie ist mehr als nur ein Abbild – sie ist Kunst, Handwerk und Ausdruck. In 7-Gedanken »Als Fotograf über die Beurteilung von Fotografie« erkundet der Autor die Vielfalt der Fotografie. Eine Einladung, Bilder bewusster zu sehen und ihre Geschichten zu entdecken.
Gedanke 6: Subjektivität als künstlerisches Werkzeug
Fotografie ist von Natur aus eine zutiefst subjektive Kunstform, insbesondere im Bereich der Porträts. Jedes Foto, das ich aufnehme, ist nicht nur ein Abbild der Realität, sondern auch das Ergebnis meiner persönlichen Wahrnehmung, meines Stils und meiner Entscheidungen. Selbst in scheinbar neutralen Kontexten, wie bei einem einfachen Passbild, fließt ein Teil meiner eigenen Sichtweise in das Bild ein. Diese Subjektivität verleiht der Fotografie Tiefe, Ausdruck und eine unverwechselbare Aussagekraft. Sie ist ein unsichtbares Werkzeug, das subtil, aber kraftvoll die Wirkung und die Botschaft eines Fotos prägt.
Ein Porträt ist niemals bloß die exakte Wiedergabe dessen, was vor der Kamera zu sehen ist. Es entsteht durch eine Vielzahl von Entscheidungen, die ich als Fotograf bewusst oder intuitiv treffe. Welchen Blickwinkel wähle ich? Arbeite ich mit weichem, schmeichelndem Licht oder setze ich harte Kontraste? Wähle ich einen engeren Bildausschnitt, der den Fokus auf die Mimik lenkt, oder lasse ich viel Raum, um eine Geschichte um die Person herum zu erzählen? Jedes dieser Elemente beeinflusst, wie der Betrachter das Bild interpretiert. Ein schlichter, dunkler Hintergrund kann Intimität und Nachdenklichkeit vermitteln, während ein lebhafter, farbenfroher Hintergrund Energie und Dynamik ausdrückt. Solche Entscheidungen geschehen oft instinktiv, aber ihre Wirkung entfaltet sich nachhaltig – sowohl bei mir als Fotograf als auch bei den Menschen, die das fertige Bild betrachten.
Ein Beispiel aus meiner Arbeit zeigt, wie tiefgreifend subjektive Entscheidungen ein Porträt formen können. Eine junge Schauspielerin benötigte ein Foto für ihr Portfolio und hatte lediglich den Wunsch, dass es „viel über sie erzählen“ sollte. Im Gespräch stellte sich heraus, dass sie einerseits als stark und entschlossen wahrgenommen werden wollte, gleichzeitig aber auch ihre nachdenkliche, verletzliche Seite zeigen wollte. Um diese Dualität einzufangen, wählte ich ein klares, direktes Licht, das Stärke und Selbstbewusstsein betonte, ließ aber einen Teil ihres Gesichts im Schatten, um eine geheimnisvolle Tiefe zu erzeugen. Der Hintergrund war bewusst schlicht und dunkel gehalten, um den Fokus auf ihre Mimik zu lenken. Das Ergebnis war ein Porträt, das ihre Facetten sichtbar machte – ein Foto, das sowohl sie selbst als auch andere berührte und eine vielschichtige Geschichte erzählte.
Selbst in Bereichen, die auf den ersten Blick rein technisch erscheinen, wie bei Passbildern, spielt Subjektivität eine Rolle. Auch hier, wo es strenge Vorgaben gibt, hinterlasse ich als Fotograf meine Handschrift. Diese zeigt sich in Details, die oft kaum wahrnehmbar sind: Wie leite ich die Person an, sich hinzusetzen? Wie erzeuge ich eine Beleuchtung, die schmeichelhaft wirkt und dennoch den Vorschriften entspricht? Diese kleinen Entscheidungen beeinflussen subtil den Gesamteindruck und zeigen, dass selbst in einem scheinbar objektiven Kontext wie einem Passbild Raum für Nuancen bleibt.
Subjektivität in der Fotografie geht jedoch über technische und gestalterische Entscheidungen hinaus. Sie hat eine emotionale und kulturelle Dimension. Jeder Fotograf bringt seine eigene Lebenserfahrung, seine Vorlieben und Werte in die Arbeit ein. Diese Einflüsse bestimmen unbewusst, wie er die Welt sieht und interpretiert. Ein Fotograf, der eine Vorliebe für minimalistische Kompositionen hat, wird Menschen anders darstellen als jemand, der sich von der Opulenz des Barocks inspiriert fühlt. Gleichzeitig trägt auch die Perspektive der porträtierten Person zur Subjektivität des Bildes bei: Welche Facetten möchte sie zeigen? Welche Seiten ihrer Persönlichkeit sollen im Fokus stehen? Diese Wünsche beeinflussen wiederum meine Entscheidungen und fügen dem Bild eine weitere Schicht von Subjektivität hinzu.
Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist ein Kunstportrait, das ich für einen Tänzer aufgenommen habe. Er wollte, dass das Bild die Stärke und Präzision seines Körpers einfängt, gleichzeitig aber auch die Leichtigkeit und Freiheit des Tanzes zeigt. Während des Shootings entschied ich mich, mit Bewegungsunschärfen zu experimentieren, um die Dynamik seiner Kunst spürbar zu machen. Ich bat ihn, eine Pose einzunehmen, die sowohl Spannung als auch Balance ausdrückt. Die Beleuchtung setzte ich so, dass seine Muskeln betont wurden, während Schatten und Unschärfen die Bewegung angedeuteten. Das Ergebnis war ein Porträt, das nicht nur technisch korrekt war, sondern vor allem von subjektiver Interpretation lebte – sowohl seiner als Tänzer als auch meiner als Fotograf.
Die Subjektivität in der Fotografie überschreitet oft die Grenzen des Mediums und findet Inspiration in anderen Kunstformen. In der Literatur spricht man davon, dass ein Autor „unsichtbar“ bleibt, obwohl seine Stimme in jedem Satz präsent ist. Ähnlich ist es in der Fotografie: Auch wenn der Fotograf hinter der Kamera steht, durchdringt seine Sichtweise jedes Bild. In der Malerei, besonders in den Werken alter Meister wie Rembrandt, sehen wir, wie Licht und Schatten nicht nur zur Gestaltung, sondern auch zur Interpretation genutzt werden, um die innere Welt der dargestellten Person sichtbar zu machen. Diese Herangehensweise hat mich stark beeinflusst. Durch die bewusste Wahl von Lichtführung, Komposition und Details versuche ich, meine eigene Handschrift in jedes Bild einfließen zu lassen, ohne dabei die Persönlichkeit der porträtierten Person zu überdecken.
Am Ende ist Subjektivität keine Schwäche, sondern eine Stärke der Fotografie, insbesondere in der Porträtkunst. Sie erlaubt es, Bilder zu schaffen, die mehr sind als bloße Darstellungen – sie verleihen dem Foto Charakter, Tiefe und Persönlichkeit. Für mich ist Subjektivität kein Zufall, sondern ein bewusst eingesetztes Werkzeug, das meine Sichtweise mit der Geschichte der porträtierten Person verbindet. Jedes Bild erzählt nicht nur, wer jemand ist, sondern auch, wie ich ihn sehe. Genau darin liegt die wahre Stärke und Schönheit der Fotografie: Sie zeigt die Welt nicht, wie sie objektiv ist, sondern wie sie empfunden wird. Und genau das macht sie für mich zu einer der vielseitigsten und individuellsten Kunstformen, die es gibt.
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