Der gestiefelte Kater und die Maus vom Brückenwärterhaus
In Loitz klagen zwei Müllerssöhne über den Oger von der Marktstraße. Die Gilde der Blaumacher trägt ihr Lied in Rat und Hof. Doch die Maus vom Brückenwärterhaus bringt eigene Wahrheiten – bis der listige Kater sie mit schalkhafter Zunge zu der seinen macht.

Es war an einem Morgen, da Trommeln über die Weiten der Peene hallten und Hörner den Nebel zerschnitten, als der Erzähler vor den Toren der Stadt Loitz erschien. Er trug eine schwere Pergamentrolle, blickte in die Menge und rief mit lauter Stimme:
„Höret, höret, ihr Getreuen von Loitz und ihr Fremdlinge aus fernen Landen! Nahet herzu und versammelt euch, denn ein Reigen von Gestalten naht, deren List und Leid ihr bald vernehmen magt.“
Und siehe, auf einem schwarzen Ross mit Sattel aus rotem Leder ritt Thomas von Daus, der erste Müllerssohn, Träger der Klage, dessen Zunge den Gram so oft beklagte, wie der Mühlstein Korn zermalmt. Neben ihm auf einem braunen Pferd saß Pust von der Gasse, der zweite Sohn des Müllers, ein Mann mit dem Blick eines Suchenden und der Stimme eines Rufers im Sturm, und hinter ihm das holde Weib, dessen Augen scharf waren wie der Blick eines Falken.
Der Erzähler mahnte die Leute, sich den Namen Daus zu merken – nicht, weil Blut und Bande ihn wiederbringen würden, sondern weil das Schicksal noch eine andere Daus senden würde, klein von Gestalt und flink wie eine Maus.
Dann kam Mario von Kerle, Ratsherr und Mitglied der Gilde der Blaumacher, deren Tun darin bestand, Kunde zu sammeln und Kunde zu streuen. Bald darauf erschien Enrico zu Schuld aus dem Schloss zu Schwesig, ebenfalls aus jener Gilde, und sie grüßten einander mit dem geheimen Zeichen: Daumen und Zeigefinger bildeten ein Rad, das langsam im Uhrzeigersinn gedreht wurde, während der Mittelfinger kurz in die Mitte tauchte – ein Zeichen, das nur Eingeweihte verstanden.
In den Straßen sprach man vom Oger von der Marktstraße, einem gewaltigen Mann, hoch wie ein Turm, mit Augen mild wie Abendlicht. Doch aus den Mündern der Brüder Daus und Pust klangen Klagen und Warnungen. „Bruder im Geiste,“ sprach Daus, „der Lärm tobt wie ein Sturm, der nicht enden will.“ – „Und keiner im Rat will uns vernehmen,“ erwiderte Pust, „nicht einmal der Stadtschreiber.“
Kerle, der mit seinen glänzenden Stiefeln aus den Gassen trat, sprach: „Fürchtet euch nicht. Ich will euer Wort vor die Königin Schnee Van Wittchen tragen.“ Und so trat er vor die Königin Schnee Van Wittchen, deren Blick glänzte wie Frost im ersten Morgenlicht, und sagte: „Hohe Frau, die Brüder werden bedrängt vom Oger, dessen Schatten weit ins Reich fällt.“ Doch die Königin sprach: „Habt ihr Botenbrief oder Zeugen?“ Kerle aber antwortete: „Wahrheit trägt sich auch ohne Pergament – doch wandert sie geschwinder, wenn man sie rufet.“
Währenddessen zog Schuld durch die Hallen der Fürsten, um beim hohen Verwalter Pegel zu sprechen. „Das Reich ist in Gefahr,“ sprach er, „denn der Oger raubt den Brüdern den Frieden.“ Pegel aber erwiderte: „Ich vernehme von Unruhe, nicht von Belagerung.“ Schuld entgegnete: „Auch leise Unruh’ kann das Reich zersetzen, wie Wasser den Stein in Jahren frisst.“
Bald zogen Kerle und Schuld durch Straßen und Säle, über Marktplätze und in Fürstenhöfe, und überall sangen sie das Lied vom Oger. Das Volk hörte und glaubte.
Doch eines Tages, als das Lied am lautesten erscholl, trat sie hervor: Fräulein Daus, genannt die Maus vom Brückenwärterhaus. Ihre Augen funkelten wie polierte Perlen aus purem Glas, ihr Schritt war flink, und in ihrem Bündel trug sie Worte, die rochen nach Wahrheit – oder doch nach neuem Zank, je nachdem, wessen Nase darin hing.
Sie sprach vom nächtlichen Klopfen, vom unruhigen Schlaf, von Schatten, in denen mehr wohnte als nur Nacht. Das Volk wandte sich von den Brüdern zu ihr. „Bruder,“ flüsterte Pust zu Daus, „sie zieht das Licht auf sich.“ – „Ja,“ sprach Daus, „und ich spüre, wie unser Lied leiser wird.“
Da trat er aus den Gassen: Murr von den Mauern, ein schlanker Kater mit blanken Stiefeln aus Leder, nicht Kerle, nicht Schuld, sondern ein eigener Herr. „Edle Maus,“ sprach er, „komm in meinen Schatten. Dein Lied ist zu fein, als dass es im Geklapper der Marktstraße verklinge. Ich will es tragen, ich will es mehren.“
Und Murr nahm die Maus auf seine Schulter. Während sie sprach, mischte sich seine Stimme unter die ihre, und bald erklang ihr Lied aus seinem Munde, heller und lauter, doch im Takt, den nur er schlug.
So ward die Maus vom Kater verschlungen – nicht mit Klauen gezückt noch Zähnen gebleckt, sondern mit samter Pfote und geschnalzter Zunge.
Und noch lange klang das Lied vom Oger. „Das Lied klingt noch, Bruder Schuld,“ sprach Kerle, „obgleich die Sänger langsam verschwanden.“ – „Ja,“ erwiderte Schuld, „und niemand fragt mehr, wer den Takt gebe.“
Fern auf der Brücke zog sich Murr ein Paar gewaltiger Siebenmeilenstiefel an, wohl gar zu weit für seinen schmalen Fuß. Und so schritt der Kater hinaus aus der Stadt, über Felder und Fluren, über Hügel und Heiden, bis hin zu jenen Orten, wo Lieder noch ungesungen waren und Ohren hungrig auf Geschichten lauschten.
Denn ob der Stiefel zu groß und der Fuß zu klein – wer den Schritt wagt, dem wird der Weg zum Schein, zum hellen Glanz bereits in fernen Landen sein – und finden mag sein Heil.
Wie ist Ihre Reaktion?






