7-Gedanken: Die Identität in einer Welt des Überflusses

7-Gedanken »Die Identität in einer Welt des Überflusses« stellt die Frage, wie Authentizität und Werte in Zeiten von Anpassungsdruck und Konsum bewahrt werden können. Anselm Bonies bietet praxisnahe Reflexionen und Lösungen, die Marken, Unternehmen und Menschen Orientierung geben.

Nov 21, 2024 - 20:19
Nov 21, 2024 - 22:09
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Gedanke 6: Identität als Widerstand
Eigene Identität statt Uniformität – oder: Der eigene Takt statt Gleichschritt. Marsch, Marsch!
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Gedanke 6: Identität als Widerstand

Identität zu bewahren, ist in einer Welt, die von Überfluss, Anpassungsdruck und Konformität geprägt ist, ein bewusster Akt des Widerstands. Es erfordert Mut, sich gegen den Strom zu stellen, eigene Werte zu verteidigen und nicht in der Gleichförmigkeit zu verschwinden, die oft als sicherer und einfacher Weg erscheint. Identität ist dabei weit mehr als nur ein äußeres Erscheinungsbild oder ein Markenbild – sie ist die Essenz dessen, was uns oder eine Organisation ausmacht. Ihre Bewahrung verlangt aktive Entscheidungen, Überzeugung und die Bereitschaft, Widerstand zu leisten.

Als Grafikdesigner mit Schwerpunkt Kommunikationsdesign sehe ich täglich diesen Kampf um Identität. Viele Unternehmen und Einzelpersonen spüren den Druck, sich den aktuellen Trends oder den Erwartungen der Masse anzupassen. Doch diese Anpassung führt oft dazu, dass das, was sie ursprünglich ausgemacht hat, verblasst. Widerstand bedeutet in diesem Kontext, sich bewusst für das Eigene und gegen das Beliebige zu entscheiden – selbst auf die Gefahr hin, nicht sofort akzeptiert oder verstanden zu werden.

Ein Beispiel aus der Markenwelt verdeutlicht, wie kraftvoll Widerstand sein kann: Die deutsche Traditionsmarke MAN hat sich in ihrer Außendarstellung bewusst auf Innovation und Verlässlichkeit konzentriert, anstatt sich von schnelllebigen Trends treiben zu lassen. Statt auf visuelle Reize und modernistische Experimente zu setzen, betont MAN seine Werte – Technologie, Langlebigkeit und Präzision. Diese Haltung hat nicht nur das Vertrauen der Kunden gestärkt, sondern auch die Marke in einem stark umkämpften Markt gefestigt.

Auch in der Kunst finden wir Beispiele, die Identität als Widerstand in ihrer reinsten Form zeigen. Künstler wie Banksy nutzen provokative Botschaften, um gesellschaftliche Missstände zu thematisieren. Seine Werke stellen sich bewusst gegen die Kommerzialisierung der Kunstwelt und die Gleichförmigkeit moderner Ästhetik. Ebenso hat Frida Kahlo mit ihren Bildern ihre persönliche Geschichte und Perspektive festgehalten, obwohl diese den Konventionen ihrer Zeit widersprachen. Beide Künstler zeigen, dass Identität nicht nur ein Ausdruck von Einzigartigkeit ist, sondern auch ein Werkzeug, um bestehende Strukturen zu hinterfragen und Veränderungen anzustoßen.

Doch der Widerstand, der mit der Bewahrung von Identität einhergeht, ist nicht nur eine Herausforderung für Marken oder Künstler – er betrifft jeden Einzelnen. In einer digitalen Welt, in der soziale Medien Konformität belohnen, wird es zunehmend schwieriger, der eigenen Identität treu zu bleiben. Algorithmen fördern Inhalte, die populär sind, und verstärken Gruppenzwang, indem sie Abweichungen oft unsichtbar machen. Studien wie jene von Jean Twenge, Autorin des Buches iGen, zeigen, dass insbesondere junge Menschen Schwierigkeiten haben, sich in einer Welt voller digitaler Erwartungen zu behaupten. Der Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit führt häufig dazu, dass sie ihre Individualität zugunsten von Trends oder Likes aufgeben.

Warum ist es dennoch so wichtig, Identität als Widerstand zu begreifen? Weil Identität die Grundlage für Innovation, Veränderung und Fortschritt ist. Gesellschaftliche Bewegungen wie die Bürgerrechtsbewegung oder Fridays for Future haben gezeigt, wie bedeutend der Mut Einzelner sein kann, die sich bewusst gegen den Status quo stellen. Ihre Identität als Aktivisten oder Veränderer hat nicht nur ihre persönliche Integrität bewahrt, sondern auch große gesellschaftliche Veränderungen angestoßen.

Auch Unternehmen, die sich trauen, gegen den Mainstream zu agieren, können langfristig Erfolg haben. Ein Beispiel ist die deutsche Marke Faber-Castell, die sich auf Qualität und Langlebigkeit statt auf Massenproduktion konzentriert. Durch die klare Fokussierung auf Werte wie Nachhaltigkeit und Handwerkskunst hat Faber-Castell eine starke Identität bewahrt und Vertrauen bei einer treuen Kundschaft aufgebaut.

Auf individueller Ebene erfordert Identität als Widerstand bewusste Entscheidungen und die Bereitschaft, auch Risiken einzugehen. Eine starke Identität bietet Orientierung und Resilienz, besonders in Zeiten des Wandels. Der Psychologe Carl Rogers beschreibt in seiner Theorie der Selbstaktualisierung, dass Menschen, die authentisch und im Einklang mit ihren Werten leben, ein höheres Maß an Zufriedenheit und Selbstbewusstsein erfahren. Diese Erkenntnis lässt sich auch auf Marken und Institutionen übertragen: Authentizität schafft Vertrauen und langfristige Beziehungen, die nicht durch Anpassung, sondern durch Beständigkeit entstehen.

Doch wie können wir in einer Welt des Überflusses und der Konformität unsere Identität bewahren? Der erste Schritt besteht darin, sich der eigenen Werte bewusst zu werden und diese konsequent in den Mittelpunkt zu stellen. Als Designer frage ich mich bei jedem Projekt: Welche Werte möchte ich sichtbar machen? Was macht diese Marke oder Botschaft einzigartig? Und wie kann ich sicherstellen, dass die Gestaltung nicht nur ästhetisch ansprechend, sondern auch inhaltlich relevant ist?

Interdisziplinäre Ansätze können dabei helfen, die eigene Identität zu stärken. Soziologen und Kulturwissenschaftler könnten aufzeigen, wie kulturelle Eigenheiten in der Gestaltung sichtbar gemacht werden können, während Philosophen die Frage nach Authentizität und Wahrung der Werte vertiefen. Psychologen könnten untersuchen, wie Individuen und Unternehmen mit sozialem Druck umgehen und ihre Identität trotz äußerer Einflüsse bewahren können.

Ein weiteres Beispiel für Widerstand durch Design ist die Arbeit von Dieter Rams, einem der einflussreichsten Designer des 20. Jahrhunderts. Seine „Zehn Thesen für gutes Design“ widersetzen sich der damals aufkommenden Tendenz zu Überfluss und Überladung. Rams setzte auf Klarheit, Funktionalität und Langlebigkeit – Prinzipien, die bis heute Bestand haben und den Weg für nachhaltiges Design geebnet haben.

Auf praktischer Ebene könnten Marken und Einzelpersonen bewusste Maßnahmen ergreifen, um ihre Identität zu bewahren. Werte-Workshops, regelmäßige Reflexion über die eigene Mission und eine klare Fokussierung auf langfristige Ziele statt kurzfristiger Trends können helfen, den Kurs zu halten. Auch auf persönlicher Ebene sind Strategien wie Journaling oder der bewusste Verzicht auf digitale Reize effektive Mittel, um sich auf das Wesentliche zu besinnen.

Das Fazit lautet: Identität zu bewahren, ist nicht nur ein persönlicher oder kreativer Akt, sondern auch ein gesellschaftlicher Beitrag. Sie erfordert Mut, Reflexion und die Bereitschaft, gegen den Strom zu schwimmen. Doch genau darin liegt die Stärke, etwas zu schaffen, das Bestand hat und wirklich zählt. Als Designer sehe ich es als meine Aufgabe, diesen Widerstand sichtbar zu machen – durch Gestaltung, die nicht nur ästhetisch, sondern auch inhaltlich überzeugt. Denn Identität ist nicht nur ein Ausdruck von Individualität, sondern auch eine Grundlage für Fortschritt und Vielfalt in unserer Gesellschaft.


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