7-Gedanken: Die Identität in einer Welt des Überflusses

7-Gedanken »Die Identität in einer Welt des Überflusses« stellt die Frage, wie Authentizität und Werte in Zeiten von Anpassungsdruck und Konsum bewahrt werden können. Anselm Bonies bietet praxisnahe Reflexionen und Lösungen, die Marken, Unternehmen und Menschen Orientierung geben.

Nov 21, 2024 - 20:19
Nov 21, 2024 - 22:09
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Gedanke 1: Die Illusion des „Mehr“
Eigene Identität statt Uniformität – oder: Der eigene Takt statt Gleichschritt. Marsch, Marsch!
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Gedanke 1: Die Illusion des „Mehr“

Die Anpassung an das „Mehr“ vermittelt auf den ersten Blick den Eindruck von Fülle und Relevanz. Wir leben in einer Zeit, in der uns eine unerschöpfliche Vielzahl an Produkten, Informationen, Dienstleistungen und Trends präsentiert wird. Diese Fülle suggeriert, dass sie automatisch zu mehr Freiheit, Qualität oder Zufriedenheit führen würde. Doch bei genauerem Hinsehen entpuppt sich dieses „Mehr“ häufig als Illusion: Statt echter Substanz verbirgt sich hinter der Fassade oft eine Leere, die den wahren Wert ersetzt. Identität wird durch Oberflächlichkeit verdrängt, und die Orientierungslosigkeit wächst.

Die Dynamik des „Mehr“ beeinflusst dabei nicht nur unseren Konsum, sondern prägt auch unsere Kommunikation und die Art, wie wir Inhalte gestalten und wahrnehmen. Als Grafikdesigner, der sich mit der Wirkung und Bedeutung von Botschaften auseinandersetzt, sehe ich diese Entwicklung besonders deutlich. Im Streben, aus der Masse hervorzustechen, werden Designs oft nach Trends und maximaler Auffälligkeit ausgerichtet. Doch wie viel von diesem Inhalt bleibt wirklich haften? Ist ein „Mehr“ an Visualität gleichbedeutend mit Bedeutung? Diese Fragen führen mich zu einer zentralen Herausforderung: Wie kann Identität in einer Welt, die vom Überfluss erdrückt wird, bewahrt und gestärkt werden?

Das „Mehr“ verspricht zunächst Positives: Vielfalt, Wahlfreiheit und Innovation. Doch das Paradox liegt darin, dass die schiere Menge nicht automatisch mit Qualität oder Bedeutung einhergeht. Dies zeigt sich in vielen Bereichen unseres Alltags. So wissen wir etwa aus Studien, dass die tägliche Aufnahme an Werbebotschaften einen Menschen längst überfordert: Laut dem Pew Research Center werden wir täglich mit über 5.000 Werbebotschaften konfrontiert – viele davon zielen nur auf unsere Aufmerksamkeit ab, ohne inhaltlich etwas Neues oder Wertvolles zu bieten. Das Resultat? Informationsüberdruss und eine Flut von Eindrücken, die keinen bleibenden Wert haben.

Auch das sogenannte „Paradox of Choice“ von Barry Schwartz beschreibt treffend, dass eine übermäßige Auswahl oft keine Bereicherung darstellt, sondern Unsicherheit und Entscheidungsschwäche erzeugt. Dieser Mechanismus lässt sich auf die Gestaltung und Kommunikation übertragen: Je mehr Botschaften und visuelle Reize produziert werden, desto schwerer wird es, eine klare, überzeugende Aussage zu formulieren. Das Ziel, mit der Masse zu konkurrieren, führt oft zu einer Verwässerung der Identität, weil Marken und Gestalter versuchen, sich an alles und jeden anzupassen.

Ein konkretes Beispiel aus meiner eigenen Arbeit zeigt, wie die Illusion des „Mehr“ Gestaltung und Wahrnehmung beeinflusst. Ein Kunde beauftragte mich, eine Kampagne zu entwickeln, die möglichst viral gehen sollte. Der Wunsch nach möglichst großer Reichweite war dabei wichtiger als die eigentliche Botschaft des Produkts. Das Ergebnis war eine visuelle Umsetzung, die kurzfristig viele Klicks und Likes generierte, aber langfristig weder zur Identität des Unternehmens passte noch echte Werte transportierte. Die Inhalte waren austauschbar, und die Kampagne verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. Dies zeigt: Ein „Mehr“, das nur auf Oberflächlichkeit abzielt, führt nicht zu nachhaltigem Erfolg – weder in der Gestaltung noch in der Wahrnehmung.

Diese Problematik betrifft nicht nur die Kommunikationsbranche, sondern auch unser Verhalten im Alltag. Die Masse drängt uns dazu, immer mehr zu konsumieren, zu produzieren und zu teilen, um relevant zu bleiben. Doch je mehr wir uns diesem Zwang unterwerfen, desto stärker verlieren wir die Fähigkeit, uns auf das Wesentliche zu besinnen. Die Auseinandersetzung mit den Kernfragen – Wer bin ich? Was will ich wirklich? – Tritt hinter das Bedürfnis zurück, Teil des stetigen Wachstums zu sein. Begriffe wie „Konsumüberdruss“ und „Informationsflut“ sind längst Teil unseres Sprachgebrauchs geworden, und sie spiegeln das Bedürfnis vieler Menschen nach Klarheit und Sinn.

Doch wie lässt sich die Illusion des „Mehr“ durchbrechen? Der erste Schritt besteht darin, die eigene Perspektive zu ändern: Qualität vor Quantität zu stellen und bewusste Entscheidungen zu treffen, statt blind jedem Trend zu folgen. Als Designer bedeutet dies, interdisziplinär zu arbeiten und sich von den Erkenntnissen anderer Disziplinen inspirieren zu lassen. Beispielsweise könnte die Psychologie helfen, besser zu verstehen, warum Menschen auf bestimmte Inhalte ansprechen, während die Soziologie untersucht, welche gesellschaftlichen Strukturen den Druck zum „Mehr“ erzeugen. Philosophie hingegen könnte uns lehren, welche Werte und Ideen überdauern, auch in einer Welt des Überflusses.

Ein Beispiel dafür, wie diese Prinzipien umgesetzt werden können, ist die zunehmende Bewegung hin zu „Slow Design“. Dieser Ansatz stellt nicht das schnelle und massenhafte Produzieren in den Vordergrund, sondern das bewusste Schaffen von Inhalten mit Substanz. So wie der Minimalismus in der Kunstgeschichte als Antwort auf überladene Stile entstand, kann Slow Design heute eine Antwort auf die Oberflächlichkeit des „Mehr“ bieten. Gestaltungen, die auf Langlebigkeit, Werte und Nachhaltigkeit setzen, haben das Potenzial, in einer Welt voller Austauschbarkeit hervorzustechen.

Auch das Storytelling bietet eine Möglichkeit, Identität in einer Welt des Überflusses sichtbar zu machen. Geschichten, die authentische Erlebnisse und Emotionen vermitteln, schaffen nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch eine Verbindung, die Bestand hat. Dabei geht es nicht darum, laut zu sein, sondern ehrlich. Ein Beispiel dafür ist die Traditionsmarke Faber-Castell. Dieses Unternehmen bleibt seiner Philosophie treu, hochwertige Schreibgeräte zu produzieren, die nicht nur funktional, sondern auch ästhetisch ansprechend sind. Durch Storytelling, das die lange Geschichte und die Werte der Marke betont, gelingt es Faber-Castell, eine starke und beständige Identität aufzubauen.

Am Ende bleibt die Frage: Wie können wir in einer Welt voller Überfluss einen echten Unterschied machen? Die Antwort liegt darin, sich bewusst auf das Wesentliche zu konzentrieren und Qualität über Quantität zu stellen – in der Arbeit, im Konsum, im eigenen Leben. Es mag schwieriger sein, diesen Weg zu gehen, doch er ist der einzige, der zu echter Bedeutung führt. Statt uns in der Fülle zu verlieren, müssen wir uns auf die Tiefe konzentrieren. Denn letztlich ist es nicht das „Mehr“, das uns ausmacht, sondern das, was wir darin erkennen und bewahren.


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