7-Gedanken: Die Identität in einer Welt des Überflusses
7-Gedanken »Die Identität in einer Welt des Überflusses« stellt die Frage, wie Authentizität und Werte in Zeiten von Anpassungsdruck und Konsum bewahrt werden können. Anselm Bonies bietet praxisnahe Reflexionen und Lösungen, die Marken, Unternehmen und Menschen Orientierung geben.
Gedanke 5: Die Gefahr des „Bedeutungslosen Mehr“
Das „Mehr“, das die Masse vorgibt, scheint auf den ersten Blick eine Fülle an Möglichkeiten und Wahlfreiheit zu bieten. Überall begegnen wir einem Überfluss an Produkten, Informationen, Medieninhalten und Trends, die uns versprechen, unser Leben zu bereichern. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass dieses „Mehr“ oft oberflächlich und bedeutungslos ist. Statt uns Orientierung oder Zufriedenheit zu schenken, führt es häufig zu Überforderung und einem Gefühl der Entfremdung. Ein Kreislauf aus Konsum und Anpassung entsteht, der immer neue Inhalte produziert, ohne dabei bleibende Werte zu schaffen.
Dieses Phänomen zeigt sich in vielen Bereichen unseres Lebens. In meiner Tätigkeit als Grafikdesigner mit Schwerpunkt Kommunikationsdesign erlebe ich, wie der Druck zur Masse die Qualität und Tiefe von Botschaften beeinflusst. Unternehmen verlangen Kampagnen, die möglichst viele Menschen erreichen sollen, oft ohne eine klare Botschaft oder einen nachhaltigen Mehrwert zu bieten. Ziel ist es, aus der Flut von Informationen hervorzustechen – doch gerade dieses Streben nach Quantität trägt zur Beliebigkeit und Bedeutungslosigkeit bei.
Ein Beispiel aus meiner beruflichen Erfahrung verdeutlicht diese Dynamik: Ein Unternehmen beauftragte mich, eine Werbekampagne für ein Lifestyle-Produkt zu gestalten, das auf einem aktuellen Trend basierte. Das Produkt war funktional solide, aber ohne Alleinstellungsmerkmal. Statt auf Werte oder eine einzigartige Geschichte zu setzen, zielte die Kampagne auf visuelle Effekte und virale Reichweite ab. Zwar sorgte die Kampagne kurzfristig für Aufmerksamkeit, doch das Produkt verschwand schnell aus dem Bewusstsein der Kunden. Die Orientierung am „Mehr“ hatte zwar kurzfristige Zahlen generiert, aber langfristig keine Bedeutung hinterlassen.
Dieses Muster ist typisch für unsere Konsumgesellschaft, in der Masse oft mit Fortschritt gleichgesetzt wird. Doch wie Studien zeigen, kann eine zu große Auswahl Menschen nicht nur überfordern, sondern auch unzufrieden machen. Der Psychologe Barry Schwartz beschreibt in seinem Buch The Paradox of Choice, wie eine Vielzahl an Optionen zu Entscheidungsstress und einer wachsenden Unsicherheit führen kann. Statt Freiheit zu genießen, fühlen wir uns blockiert und neigen dazu, die erstbeste, oft unüberlegte Wahl zu treffen.
Das „bedeutungslose Mehr“ zeigt sich nicht nur im Konsumverhalten, sondern auch in der Medienlandschaft. Plattformen wie Instagram oder TikTok fördern die Produktion immer neuer Inhalte, die oft kaum mehr sind als visuelle Reize. Die Belohnung erfolgt in Form von „Likes“ oder Followerzahlen, die jedoch selten auf Substanz basieren. Dieses System schafft eine Illusion von Bedeutung, die schnell verblasst, weil sie keine tiefere Verbindung oder nachhaltige Werte bietet. Der Begriff „Informationsüberflutung“, geprägt von Alvin Toffler, beschreibt dieses Phänomen treffend: Wenn die Menge an Informationen die Kapazität unserer Wahrnehmung übersteigt, verlieren wir den Fokus auf das, was wirklich wichtig ist.
Doch es gibt Gegenbewegungen, die zeigen, dass weniger tatsächlich mehr sein kann. In der Geschichte finden sich immer wieder Beispiele für bewusste Reduktion und Fokussierung als Antwort auf Überfluss. Die Minimalismus-Bewegung in Kunst und Design etwa entstand als Reaktion auf die Überladung und Überkomplexität des 20. Jahrhunderts. Statt auf Masse und Dekoration zu setzen, legten Künstler und Designer wie die Vertreter des Bauhauses den Fokus auf Funktionalität, Klarheit und zeitlose Formen. Dieser Ansatz schuf Werke, die durch ihre Einfachheit bis heute Bestand haben.
Auch in der heutigen Markenwelt gibt es Beispiele, die zeigen, wie ein bewusster Umgang mit „weniger“ langfristig erfolgreicher sein kann. Die deutsche Traditionsmarke Miele konzentriert sich seit Jahrzehnten auf Langlebigkeit und Qualität, anstatt sich dem schnellen Innovationszyklus vieler Elektronikunternehmen zu unterwerfen. Dieses Prinzip der Beständigkeit hat Miele zu einer vertrauenswürdigen Marke gemacht, die sich in einer Welt des Überflusses durch Substanz auszeichnet. Ein weiteres Beispiel ist Birkenstock: Einst als altmodisch belächelt, hat die Marke durch ihren Fokus auf Komfort, Nachhaltigkeit und Qualität eine treue Anhängerschaft aufgebaut, ohne dabei ihre Identität zu verlieren.
Die Gefahr des „bedeutungslosen Mehr“ betrifft jedoch nicht nur Unternehmen und Marken, sondern auch unser persönliches Verhalten. Der ständige Konsum von Medien, Produkten und Trends lenkt uns oft davon ab, uns auf das zu konzentrieren, was wirklich zählt. Wir scrollen durch endlose Social-Media-Feeds, ohne etwas zu behalten, oder kaufen Dinge, die wir kaum nutzen. Dieses Verhalten führt zu einem Verlust an Klarheit und Tiefe in unserem Leben – und verstärkt das Gefühl, von der Welt entfremdet zu sein.
Doch wie können wir diesem Kreislauf entkommen? Der erste Schritt liegt darin, bewusste Entscheidungen zu treffen. Als Designer frage ich mich bei jedem Projekt: Was ist die Kernbotschaft, die ich vermitteln möchte? Welche Werte stehen dahinter, und wie kann ich diese klar und authentisch kommunizieren? Es geht darum, Substanz vor Masse zu stellen und Inhalte zu schaffen, die eine Verbindung zum Publikum herstellen – nicht nur kurzfristig, sondern nachhaltig.
Interdisziplinäre Ansätze können dabei helfen, neue Perspektiven zu entwickeln. Psychologen können untersuchen, wie Reduktion und Klarheit die Wahrnehmung beeinflussen, während Soziologen und Philosophen die gesellschaftlichen Mechanismen hinter dem Streben nach „mehr“ beleuchten. Nachhaltigkeitsexperten könnten zeigen, wie eine bewusste Reduktion von Ressourcen nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch sinnvoll ist.
Ein inspirierendes Beispiel aus der Kommunikationswelt ist die Kampagne „This Is Not a Game“ von Amnesty International. Statt auf eine Flut von Bildern oder langen Texten zu setzen, nutzte die Kampagne ein einziges eindrucksvolles Bild mit einer klaren Botschaft. Die Wirkung war immens, weil die Reduktion auf das Wesentliche eine starke emotionale Verbindung schuf. Dies zeigt, dass weniger oft mehr ist, wenn es um Klarheit und Bedeutung geht.
Das Fazit lautet: Das „bedeutungslose Mehr“ mag verlockend erscheinen, weil es eine Illusion von Fülle und Fortschritt erzeugt. Doch wahre Bedeutung entsteht nicht durch Masse, sondern durch Tiefe und Substanz. Als Designer sehe ich es als meine Aufgabe, diesem Trend entgegenzuwirken – durch Gestaltung, die Klarheit und Werte in den Mittelpunkt stellt. Denn in einer Welt des Überflusses ist es die Reduktion auf das Wesentliche, die langfristig Bestand hat und echte Bedeutung schafft.
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