Die Causa „Marktstraße“: Anatomie einer Inszenierung
„Marktstraße – Anatomie einer Inszenierung“ erzählt, wie sich ein lokales Gerücht in eine politische Realität verwandelt. Ein persönlicher, präziser Text über Sprache, Angst und Verantwortung – und die zerstörerische Macht populistischer Narrative.
Die Geburt des Narrativs im Kopf
Es begann – wie vieles, das später große Wellen schlägt – ganz leise. Kein Scheinwerferlicht, kein großer Auftritt, keine Kameras. Nur ein Raum im Alten Amtsgericht von Loitz, nüchtern, vielleicht ein bisschen zu kalt, ein paar Stühle, ein paar Menschen – viele mit Sorgenfalten auf der Stirn. Eine ganz gewöhnliche Bürgersprechstunde.
Und doch lag etwas in der Luft. Eine Mischung aus Nervosität, Unmut, und dieser diffusen Angst, für die niemand so recht Worte fand – und trotzdem sprach plötzlich jeder darüber.
Da war die Rede von nächtlichem Lärm. Von zerbrochenen Fenstern, von Steinen, die angeblich geflogen seien. Und von Gärten – einst Rückzugsorte – die nun, so hieß es, als Toiletten missbraucht würden. Die Formulierungen wirkten wie Splitter: ungenau, aber schmerzhaft. Und immer wieder fiel dieser Satz: „Wir haben Beweise.“
Doch wer genau hinhörte, merkte schnell – sie wurden nie gezeigt. Kein Foto, kein Protokoll, keine Anzeige. Nur Behauptungen, die sich wiederholten. Und je öfter sie wiederholt wurden, desto realer wirkten sie.
Hier, genau an diesem Punkt, entstand etwas, das man nüchtern „kognitive Dissonanz“ nennt – in Wahrheit aber ein zutiefst menschlicher Reflex ist: Wenn die Beweise fehlen, aber das Gefühl bleibt, sucht der Kopf nach Erklärungen. Und findet sie. Irgendwo. Irgendwie.
Die Leerstelle, die die Fakten hinterlassen, wird nicht durch Zweifel gefüllt, sondern durch Bilder, durch Geschichten, durch Emotionen.
Plötzlich steht da nicht nur Ärger im Raum – sondern das Gefühl einer Dauerbelastung. Von nächtlichem Terror. Von Kontrollverlust.
Das Erstaunliche: Es brauchte keine Statistik, kein Gutachten, keinen Polizeibericht. Es reichten Worte. Worte, die das Kopfkino in Gang setzten. Und wie das so ist mit inneren Bildern – hat man sie sich einmal ausgemalt, lassen sie sich nur schwer wieder löschen. Vor allem dann, wenn sie immer wieder erzählt und bekräftigt werden.
So geschah es in den Folgetreffen. Erlebnisse wurden geteilt, die vielleicht gar nichts miteinander zu tun hatten – aber doch alle in derselben Schublade landeten.
Das Persönliche wurde kollektiv. Die Einzelfälle – so unkonkret sie waren – wurden zur Stimmungslage.
Und irgendwann verwandelte sich „die Marktstraße“, dieser reale Straßenname, in etwas anderes. In einen Ort, der weniger aus Pflastersteinen und Hausnummern bestand, sondern aus Emotionen, Assoziationen, Vermutungen.
Die Marktstraße wurde ein Symbol – nicht für das, was war, sondern für das, was man zu sehen glaubte.
Ein Brennpunkt, ja – aber nicht im klassischen Sinn, mit Blaulicht und Tatortband. Sondern ein mentaler Brennpunkt.
Ein Ort im Kopf, gespeist aus Eindrücken, Ängsten, unbeantworteten Fragen.
Und wenn wir ehrlich sind, kennen wir diesen Mechanismus alle. Man hört, dass irgendwo etwas passiert sei – vage, unkonkret. Und plötzlich wirkt die dunkle Gasse dunkler. Das Klirren in der Nacht lauter. Das Schweigen der Nachbarn schwerer.
Es braucht nicht viel, um ein inneres Bild entstehen zu lassen, das sich tief ins Denken gräbt. Die Vorstellung wird zur Wahrheit – oder zumindest zur gefühlten.
Und genau hier beginnt eine Erzählung nicht nur erzählt zu werden – sondern wirksam zu werden.
Denn eine gefühlte Wahrheit braucht keine Beweise. Sie genügt sich selbst. Sie lässt sich kaum korrigieren, weil sie nicht auf Fakten basiert, sondern auf Stimmungen. Und Stimmungen sind zäh. Sie ziehen sich durch Gespräche, flüstern in Fluren, setzen sich zwischen die Menschen wie ein unsichtbarer Schleier.
Manchmal sind es eben nicht die Beweise, die überzeugen – sondern die Bilder, die wir uns selbst ausmalen.
Worte können stärker sein als Tatsachen.
Und je öfter eine Erzählung wiederholt wird, desto realer fühlt sie sich an.
Genau darin liegt die Gefahr: Wenn niemand mehr fragt, was wirklich passiert ist. Wenn Gefühle die Fakten ersetzen.
Dann braucht es nicht nur Aufklärung, sondern auch Mut.
Den Mut, innezuhalten, bevor man urteilt.
Den Mut, zu fragen, statt zu deuten.
Und vor allem: den Mut, das eigene Bild zu hinterfragen – gerade dann, wenn es sich besonders richtig anfühlt.
Wie ist Ihre Reaktion?
