Marktstraße: Unter falscher Flagge
Eine Straße wird zur Bühne politischer Symbolik »Marktstraße: Unter falscher Flagge« erzählt, wie aus unbelegten Vorwürfen ein mächtiges Narrativ entsteht – lauter als Fakten; wirksamer als Beweise. Ein Protokoll über Sprache, Macht und Eskalation.

Kapitel 5: Fakten vs. Erzählung – die behördliche Lageeinschätzung
Irgendwann lohnt sich der Blick in die Akten. Denn dort, wo in den Versammlungen von Bedrohung und Terror die Rede war, zeichnet sich auf dem Papier ein ganz anderes Bild. Polizeiberichte, Verwaltungsprotokolle, Stellungnahmen von Ordnungsbehörden: Sie enthalten keine Hinweise auf Morddrohungen, keine systematische Gewalt, keine belegten Steinwürfe. Was dort zu finden ist, klingt nüchterner: Lärmbeschwerden, Nachbarschaftsstreitigkeiten, einzelne Sachschäden. Kurz: Vorkommnisse, die den Alltag belasten, aber keine Straßenzüge in Ausnahmezonen verwandeln.
Und doch ist es gerade diese Diskrepanz, die den Kern der Geschichte ausmacht. Während draußen die Rede von „nächtlichem Terror“ war, hielten die Akten nüchterne Feststellungen fest. Während in Bürgersprechstunden von Angriffen die Rede war, blieb in den Polizeiprotokollen vieles leer. Das Schweigen der Akten wurde durch die Lautstärke der Erzählungen überdeckt – bis man irgendwann meinte, beides sei dasselbe.
Das ist eine gefährliche Verschiebung. Denn wenn das gesprochene Wort die amtliche Feststellung verdrängt, kippt die Logik. Plötzlich sind es nicht mehr die Beweise, die Gewicht haben, sondern die Worte, die am häufigsten wiederholt werden. Das ist, als würde man im Gerichtssaal nicht das Protokoll lesen, sondern die Schlagzeilen der Zeitung – und daraus ein Urteil ableiten.
Dabei gab es durchaus Ansätze, die Lage zu entschärfen: Vermittlungsangebote, Integrationsgespräche, Versuche, Konflikte im Alltag zu lösen. Doch diese Maßnahmen fanden kaum Beachtung in der öffentlichen Erzählung. Sie passten nicht ins Bild der Problemstraße. Und so verschwanden sie aus den Schlagzeilen, obwohl sie vielleicht die wirksameren Antworten gewesen wären.
Die behördliche Lageeinschätzung zeigt also zweierlei: Zum einen, dass die großen Anschuldigungen unbelegt blieben. Zum anderen, dass dort, wo Verwaltung versuchte zu vermitteln, das Narrativ längst stärker war. Es war, als ob die Worte einen eigenen Schatten geworfen hätten – dunkler und länger als die Wirklichkeit es hergab.
Im Ergebnis bleibt eine einfache, aber ernüchternde Erkenntnis: Die Marktstraße war nicht das, wozu sie erklärt wurde. Sie war ein Ort mit Konflikten, ja – aber kein Brandherd. Doch das reichte nicht, um sich gegen das Bild zu wehren, das über sie gelegt wurde. Zwischen Fakt und Erzählung klaffte eine Lücke – und in dieser Lücke entschied sich, wie die Geschichte weitererzählt wurde.
MARKTSTRASSE: Unter falscher Flagge
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