Marktstraße: Unter falscher Flagge

Eine Straße wird zur Bühne politischer Symbolik »Marktstraße: Unter falscher Flagge« erzählt, wie aus unbelegten Vorwürfen ein mächtiges Narrativ entsteht – lauter als Fakten; wirksamer als Beweise. Ein Protokoll über Sprache, Macht und Eskalation.

Sep 17, 2025 - 14:24
Sep 17, 2025 - 18:09
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Kapitel 2: Die erste Stimme – Ursprung der Erzählung
Was, wenn nicht die Wahrheit zählt – sondern die lauteste Geschichte?
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Kapitel 2: Die erste Stimme – Ursprung der Erzählung

Es braucht nicht viele Stimmen, um eine Dynamik in Gang zu setzen. Manchmal reicht eine einzige – wenn sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort ertönt. In Loitz war es die Stimme einer Anwohnerin, nennen wir sie Sigrid D., die das erste große Bild zeichnete. Sie sprach von Steinen, die gegen Fenster geflogen seien. Von Menschen, die nachts an Hauswände urinierten. Von Lärm, von Poltern, von einer Art nächtlicher Randale, die einem das Gefühl gab, nicht mehr sicher zu sein.

Ihre Worte hatten Kraft, weil sie unmittelbar Bilder erzeugten. Man sah sie förmlich vor sich: das Splittern von Glas, Schatten im Dunkeln, die feuchte Hauswand am Morgen. Diese Bilder blieben im Kopf hängen, auch ohne dass jemand Beweisfotos gesehen hätte. Es waren Sätze, die sich einprägten, weil sie Emotionen auslösten – Wut, Angst, Empörung.

Doch bemerkenswert ist: Schon diese erste Erzählung stand auf unsicherem Boden. Die geschilderten Vorfälle spielten sich nicht einmal dort ab, wo später der Fokus liegen sollte – nicht direkt an den Häusern der Familien Daus oder Pust, sondern an einer anderen Adresse, ein paar Häuser weiter. Eine kleine Verschiebung, unscheinbar auf den ersten Blick, aber folgenreich. Denn was zunächst lokal und begrenzt war, wurde im Verlauf weniger Wochen zur „Marktstraße“ erklärt. Die Adresse wanderte, und mit ihr die Verantwortung.

So setzte die erste Stimme einen Ton, der weit über das Konkrete hinausging. Was als persönliche Erfahrung begann, wurde in den Köpfen der Zuhörer schnell zu einer allgemeineren Erzählung: „So ist es dort, so läuft es in dieser Straße.“ Man fragte nicht mehr genau, wo etwas geschehen war. Die Details verschwammen, das Bild blieb.

Dieser Mechanismus ist nicht neu. Man kennt ihn aus der Politik, aus Gerichtsverfahren, sogar aus Familiengeschichten: Ein Satz, eine Anschuldigung, und plötzlich trägt er eine ganze Bedeutungsschicht. Er wird weitererzählt, manchmal ausgeschmückt, manchmal verdichtet – und jedes Mal gewinnt er an Gewicht. Genau so geschah es hier.

Sigrid D. hatte wohl nicht die Absicht, ein Narrativ für eine ganze Stadt zu liefern. Aber ihre Worte wurden zum Ausgangspunkt für etwas, das größer war als ihr eigener Bericht. Sie bot Schlagworte, die andere aufnehmen konnten: „Steinwurf“, „Randale“, „nächtlicher Terror“. Diese Worte waren wie Bausteine, die andere nur noch aufnehmen und aneinanderfügen mussten.

Und so stand am Anfang der Marktstraße-Erzählung nicht ein Gerichtsurteil, nicht ein Polizeibericht, sondern eine Stimme. Eine Stimme, die etwas in Bewegung setzte, das sich verselbstständigte. Sie war der Zündfunke – und alles, was danach kam, war das Echo.


MARKTSTRASSE: Unter falscher Flagge


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