7-Gedanken: Selbst sichtbar werden - statt dargestellt sein

Eine gestalterisch-philosophische Auseinandersetzung über Gestaltung als Haltung. In sieben Gedanken wird Sehen, Entscheiden, Reduzieren und Wahrnehmen neu erfahrbar – als Einladung zur Präsenz, nicht zur Abbildung. Ruhig. Präzise. Offen für Zwischentöne. Im Sinne von Catharine Remberts Lehre.

Apr 23, 2025 - 18:06
Apr 23, 2025 - 20:55
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GEDANKE 1: Die Linie als Entscheidung
Im Raum der Zwischenformen – Gedanken hängen, nicht als Botschaft, sondern als Bewegung im Raum.
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GEDANKE 1: Die Linie als Entscheidung

Man könnte meinen, die Linie sei etwas Einfaches.
Ein Anfang. Ein Ende.
Eine Kontur, die etwas abgrenzt – und dadurch Form schafft. 

Doch so, wie Catharine Rembert sie lehrte, war sie mehr:
Sie war keine Repräsentation, sondern Präsenz.
Keine Beschreibung, sondern eine Entscheidung. 

Remberts Schattenriss-Übungen – auf den ersten Blick eine altmodische Technik –
waren in Wahrheit hochmoderne Schulungen im bewussten Sehen.
Kein Skizzieren, kein Nachfahren, kein Modellieren im Sinne eines „richtigen Bildes“.
Sondern ein Spüren:
Wo beginnt eine Form für mich?
Und – ebenso wichtig – wo hört sie auf? 

Die Linie wird zur existenziellen Geste.
Nicht im Pathos, sondern im Praktischen. 

Denn wer zeichnet, muss wählen.
Und wer wählt, übernimmt Verantwortung – für das Sichtbare.
Für das, was durch die eigene Hand ins Licht tritt. 

Diese Entscheidung ist keine rein technische.
Sie ist eine Haltung zur Welt. 

In einer Zeit, in der Bildproduktion automatisiert ist,
in der Gesten standardisiert und Filter über alles gelegt werden,
wird die bewusst gesetzte Linie zur Widerrede. 

Sie sagt:
Ich sehe selbst.
Ich entscheide selbst.
Ich bin kein Abbild-Apparat. 

Rembert verstand diese Haltung nicht als Technik,
sondern als Schulung –
nicht nur für Künstler, sondern für Menschen. 

Denn das bewusste Sehen –
das Setzen einer Linie –
verändert auch den Blick aufs Leben. 

Was nehme ich wahr?
Wo ziehe ich eine Grenze?
Was lasse ich außen vor – und warum? 

In ihren Kursen bedeutete das: innehalten.
Nicht den Pinsel einfach führen lassen.
Nicht schnell skizzieren,
sondern die Hand zwingen, zu spüren, was sie tut. 

Und plötzlich wurde sichtbar,
wie viel Kraft in einer einzigen Linie liegt.
Wie viel Klarheit in einer bewussten Setzung.
Wie viel Mut in einem Verzicht auf Ausschmückung. 

Diese Linie – sie ist nicht perfekt.
Sie ist nicht illustrativ.
Aber sie ist ehrlich.
Sie ist da.
Und sie bedeutet etwas. 

In diesem Sinne war die Linie bei Rembert kein Mittel zum Zweck,
sondern ein Medium des Denkens.
Ein Gedanke mit der Hand gezogen.
Ein Satz ohne Worte.
Ein sichtbares Ja zur Gegenwart. 

Gestaltung, so verstanden, ist nicht das Entwerfen eines Bildes.
Es ist das Entwerfen einer Position. 

Ein Schüler Remberts schrieb einmal an den Rand seiner Übung:
„Ich habe heute nicht gelernt zu zeichnen –
aber ich habe verstanden, wo ich stehe. “

Vielleicht ist das die eigentliche Funktion der Linie:
Nicht etwas darzustellen –
sondern sichtbar zu machen,
wo das Ich beginnt.
Und wie es in der Welt steht. 

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