Wohnraum, Wahrheit, Verwaltungsakte – Die Debatte

Kapitel 6: Mediale Eskalation: Die Zahl als Erzählmuster
Wirkung unbelegter Zahlen
Eine Zahl ohne Herkunft – mit Wirkung in alle Richtungen
Es gibt Zahlen, die erklären. Und Zahlen, die entlasten. Es gibt welche, die rechnen, belegen, sortieren. Und dann gibt es jene, die gar nicht erklären wollen – sondern erzeugen: Bilder, Wirkungen, Atmosphären. Die Zahl „30 bis 50“ gehört in diese Kategorie.
Sie wirkt, weil sie konkret klingt. Weil sie ein Ausmaß andeutet, das größer ist als der Raum, in dem es angeblich stattfindet. Weil sie Druck aufbaut – gegen ein Gefühl der Ohnmacht. Und weil sie mit jeder Wiederholung mehr nach „Fakt“ aussieht – obwohl sie nie belegt wurde.
In der Debatte um die Marktstraße hat diese Zahl nicht nur eine Diskussion angestoßen – sie hat sie gesteuert. Sie wurde zur zentralen Erzählfigur. Zum Marker von Überforderung. Zum Signal: Hier stimmt was nicht.
Aber woher stammt sie?
Nicht aus dem Melderegister. Nicht aus einem Polizeibericht. Nicht aus einem Prüfprotokoll.
Sondern: aus dem Wortlaut politischer Aussagen, sinngemäß überliefert in Landtagssitzungen, Pressegesprächen, NDR-Beiträgen. Mario Kerle war einer der Ersten, die diese Zahl öffentlich nannten – „30 bis 50 Personen“ in zwei Häusern. Doch eine Quelle blieb er schuldig. Kein Beleg. Kein Bericht. Kein amtlicher Bezug.
Das macht die Aussage aber nicht unwirksam – im Gegenteil: Gerade weil sie nicht belegt ist, kann sie sich flexibel durch die öffentliche Debatte bewegen. Sie ist nicht überprüfbar – also auch nicht widerlegbar, für jene, die sie glauben wollen. Sie steht da wie ein Verdacht mit Zahlencode. Halb konkret, halb gefühlt – aber immer eindrucksvoll.
Und hier beginnt das Problem.
Denn wer Zahlen nennt, übernimmt Verantwortung. Nicht nur für ihre Richtigkeit – sondern für die Wirkung, die sie entfalten.
In einem aufgeheizten politischen Klima ist die Nennung von Zahlen keine Nebensache. Sie ist ein strategischer Akt. Eine rhetorische Entscheidung. Ein Hebel. Und ein möglicher Brandbeschleuniger.
Gerade deshalb muss bei jeder Zahl gefragt werden:
» Wer hat sie genannt?
» Auf welcher Grundlage?
» Wann?
» Und mit welchem Ziel?
In der Marktstraße ist auf diese Fragen keine klare Antwort zu finden. Nur: Wiederholung. Übernahme. Zitierung. Die Zahl „30 bis 50“ wurde nicht geprüft, sondern multipliziert. Von Politik zu Presse, von Presse zu Bürgerdialog, von Bürgerdialog zurück in die Verwaltung.
So entstehen keine Fakten. So entstehen: Erzählräume.
Und diese Erzählräume wirken – auch ohne Wahrheitsgehalt. Sie beeinflussen das Sicherheitsempfinden. Sie verändern politische Prioritäten. Sie legen sich über Orte, Menschen, Straßen – wie ein Schatten, den man nicht mehr einfach wegfegen kann.
Eine Zahl wie „30 bis 50“ erzeugt mehr als Statistik:
» Sie erzeugt: Verdacht.
» Sie erzeugt: Legitimationsdruck.
» Sie erzeugt: Handlungserwartung.
Wenn 30 oder 50 Menschen in zwei Häusern leben – dann muss doch etwas getan werden, oder?
Diese Logik lebt von der Zahl. Nicht von der Lage.
Aber das ist der Unterschied zwischen Verwaltung und Erzählung:
Die Verwaltung prüft, bevor sie handelt. Die Erzählung handelt – indem sie behauptet.
Funktion als Erzählrahmen für Ordnungspolitik
Wenn eine Zahl Ordnung verspricht – aber Unruhe erzeugt
In politischen Debatten sind Zahlen selten nur Zahlen. Sie sind Erzählwerkzeuge. Sie strukturieren, was diffus erscheint. Sie geben scheinbar Klarheit, wo die Lage komplex ist. Und oft dienen sie als Chiffre für Handlungsbedarf – besonders dann, wenn die Zahl hoch genug ist, um als „außergewöhnlich“ empfunden zu werden.
Die Zahl „30 bis 50 Personen“ erfüllt genau diese Funktion. Sie macht aus einem Wohnhaus ein Thema. Aus einer Adresse: einen Ort der Unordnung. Und aus einem Nachbarschaftskonflikt: eine Frage der öffentlichen Sicherheit.
Man könnte auch sagen:
Die Zahl ist der Dreh- und Angelpunkt einer ordnungspolitischen Erzählung.
Denn mit ihr lassen sich Argumente anschließen, die sonst kaum durchsetzbar wären:
» Dass man „jetzt durchgreifen“ müsse.
» Dass der Stadt „die Hände gebunden“ seien.
» Dass es „Sonderlösungen“ brauche.
» Dass „so etwas“ nicht normal sei.
All das hängt an der Zahl. Und nicht an den tatsächlichen Verhältnissen.
Tatsächlich zeigt die Aktenlage:
» Acht Wohnungen.
» Rund 411 m² Gesamtwohnfläche.
» Dreizehn gemeldete Personen.
» Geprüfte Mietverhältnisse.
» Keine Überbelegung.
Doch diese Realität ist zu leise für die politische Empörung. Sie passt nicht ins Bedrohungsszenario. Sie ist zu normal, zu stabil, zu wenig aufregend.
Also braucht es eine Zahl, die diese Normalität durchbricht. Eine Zahl, die groß genug ist, um Irritation zu erzeugen. Und gleichzeitig unklar genug, um auf keine Akte zurückgeführt werden zu können.
Hier wird Ordnung nicht hergestellt – hier wird sie behauptet, indem man ihren Verlust inszeniert.
Und das ist ein bewährtes Mittel:
Wer Ordnungspolitik betreiben will, braucht zuerst ein Bild der Unordnung.
Und je undeutlicher die Faktenlage, desto deutlicher das Bild, das entstehen soll.
Die Marktstraße wird dadurch nicht mehr Ort – sondern Symbol.
Sie steht nicht für das, was ist – sondern für das, was politisch gebraucht wird.
Ein Brennpunkt. Ein „rechtsfreier Raum“. Ein Beispiel, an dem gezeigt werden kann: „Wir handeln.“
Doch woran genau wird da gehandelt?
An Wohnverhältnissen? An Verwaltung? An Nachbarschaft?
Oder schlicht: an einem Gefühl von Kontrollverlust, das man politisch ausgleichen möchte – durch mediale Präsenz, durch polarisierende Rhetorik, durch das Setzen eines Zeichens?
Wenn politische Erzählungen sich von der Faktenlage entfernen, entsteht nicht Ordnung – sondern eine Verschiebung:
» Weg von überprüfbarer Verwaltung.
» Hin zu symbolischer Aktion.
Doch Wohnpolitik ist kein Symbolfeld. Sie betrifft Menschen. Kinder. Familien. Mietverhältnisse. Rechte.
Sie lässt sich nicht durch Zahlenfloskeln „beruhigen“. Sondern nur durch Genauigkeit.
Wer Ordnung herstellen will, muss ordnungsgemäß handeln.
Wer Zahlen nennt, muss sie belegen können.
Und wer politische Handlungsmacht beansprucht, sollte sich vorher vergewissern, ob das Problem real ist – oder nur seine Erzählung.
Begriff „Geistige Brandschatzung“
Wenn Worte nicht klären, sondern lodern
Es gibt Begriffe, die ordnen. Und es gibt solche, die entflammen. Die nicht Licht bringen, sondern Hitze. Nicht Erkenntnis, sondern Erregung. In der Auseinandersetzung um die Marktstraße ist genau das geschehen – nicht durch die Taten selbst, sondern durch die Worte, die daraus gemacht wurden. Nicht durch Vorfälle, sondern durch Formulierungen.
Und genau dafür steht der Begriff: „Geistige Brandschatzung.“
Er beschreibt ein Prinzip, das sich seit Monaten in der öffentlichen Kommunikation beobachten lässt:
» Die Realität wird nicht dargestellt – sie wird angezündet.
» Nicht mit Fackeln, sondern mit Begriffen.
» Nicht mit Gewalt, sondern mit Behauptung.
» Und nicht mit Absicht zur Aufklärung, sondern mit dem Ziel, einen Resonanzraum zu erzeugen – laut, aufgeladen, unausweichlich.
In diesem Raum ist kein Platz mehr für Sachverhalt. Dort wirkt nur noch der Eindruck. Und dieser Eindruck wird erzeugt – durch:
» Zahlen ohne Nachweis,
» Zuschreibungen ohne Namen,
» Szenarien ohne Quelle,
» und Wiederholungen, die wie Belege klingen.
„Geistige Brandschatzung“ ist keine Metapher für Meinungsvielfalt. Sie ist ein Warnbegriff – für das, was passiert, wenn Sprache ihren Boden verliert.
In der Marktstraße waren es am Ende nicht zu viele Menschen, sondern zu viele Erzählungen über sie, die das Klima vergiftet haben.
Und mit jedem Beitrag, jeder Wortmeldung, jedem neuen Dreh eines alten Zitats wuchs das Feuer.
Die Debatte wurde nicht geführt – sie wurde befeuert.
Und wer davon spricht, dass „die Stimmung gekippt“ sei, sollte sich fragen:
» Wer hat den Rauch erzeugt?
» Wer hat die Funken gestreut?
» Wer hat die Deutungshoheit beansprucht, ohne sie belegen zu können?
„Geistige Brandschatzung“ bedeutet: Man entzündet ein Thema – und schaut, was daraus wird.
Nicht um es zu lösen, sondern um sich daran zu reiben. Es ist ein kalkulierter Verlust von Differenzierung, ein geplanter Verzicht auf Beleg, ein bewusster Angriff auf Verwaltungsrationalität.
Wer in diesem Klima versucht, sachlich zu bleiben, wird schnell zum „Verharmloser“ erklärt.
Wer widerspricht, steht im Verdacht, „nicht die Realität sehen zu wollen“.
Und wer auf die Aktenlage verweist, wird übertönt von jenen, die lieber „aus dem Bauch heraus“ reden.
So entsteht eine neue Art von Eskalation:
Nicht durch Handlungen – sondern durch ihre sprachliche Überhöhung.
Nicht durch Fakten – sondern durch ihre Verzerrung.
Nicht durch Fehler – sondern durch Erzählung.
Und das ist der Kern geistiger Brandschatzung:
Sie braucht keinen Nachweis. Sie braucht nur eine Plattform. Und Wiederholung.
Doch was schützt davor?
» Eine Sprache, die trennt zwischen Meinung und Meldung.
» Eine Verwaltung, die auf Nachweis besteht, nicht auf Narrativ.
» Eine Öffentlichkeit, die nicht auf Lautstärke hört, sondern auf Quelle.
Denn wenn alles gesagt werden kann – auch ohne Beleg –, wird bald nichts mehr geglaubt, das bewiesen ist.
Die Marktstraße ist kein Ort des Rechtsbruchs.
Sie ist ein Ort des Redens über andere – statt mit ihnen.
Und genau deshalb braucht es eine Rückkehr zu Maß und Verwaltung.
Denn nicht die Menschen haben das Problem gemacht.
Sondern die Erzählung über sie.
Wie ist Ihre Reaktion?






