SNORRI: Ein Engel ohne Flügel auf Erden (Kurzgeschichte)

Smilla, ein stilles Mädchen, dessen Augen mehr ausdrücken als Worte je könnten, begegnet Snorri, einem weisen Mann, der die Kunst beherrscht, Geschichten zu erzählen und Freude zu verbreiten. Gemeinsam weben sie eine Geschichte von Ida und Arnulf, die zeigt, dass wahre Kommunikation jenseits von Worten liegt. Als Smilla ihre stille Gabe nutzt, um anderen zu helfen, verwandelt sie ihr Ort in einen Ort der Hoffnung und des Verständnisses - Spüre deinen Puls.

Jan 27, 2024 - 16:10
Jan 29, 2024 - 12:23
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SNORRI: Ein Engel ohne Flügel auf Erden (Kurzgeschichte)

In der Stille des Morgens, als die ersten Strahlen der Sonne die Erde küssten und die Welt noch in einem sanften Halbschlaf lag, erwachte die kleine Smilla. Ihr Herz war leicht wie die Federn eines Schmetterlings, und ihre Augen leuchteten mit der Unschuld eines Engels. Noch in ihrem weißen Nachthemdchen, das um sie herum wirbelte, lief sie barfuß über den kühlen Boden des Vorgartens und des Weges, der gefüllt war mit der Stille derer, die noch schliefen.

Smilla war kein gewöhnliches Kind. Die Menschen im Ort sprachen oft davon, wie sie seit ihrer Geburt nie ein Lächeln auf ihren Lippen gezeigt hatte. Doch wer genau hinsah, konnte in ihren Augen ein Lächeln entdecken, das tiefer und echter war als alles, was Worte je ausdrücken könnten.

An diesem Morgen, als Smilla die knarrende Tür zum Garten öffnete, begegnete sie Snorri, einem alten weisen Mann, dem Hüter des Ortes, der seit Generationen als Wächter, Lehrer und Freund allen Kindern dienlich ist. Er hatte das Talent, Freude und Lachen zu verbreiten, indem er die Kinder zusammenbrachte, Geschichten erzählte und sie lehrte, einander zu unterstützen und im Dickicht des Waldes lebte. Snorri, der schon so viel gesehen und erlebt hatte, war bekannt dafür, dass er den Kindern des Ortes mit seinen Geschichten Freude brachte.

"Smilla," sagte Snorri mit seiner rauchigen, warmen Stimme, "du bist früh auf den Beinen. Was führt dich zu dieser Stunde in den Garten?"

Smilla blickte zu ihm auf, ihre Augen funkelten im Licht der aufgehenden Sonne. "Ich wollte den Vögeln beim Singen zuhören" antwortete sie sanft, "und sehen, wie die Welt erwacht."

Snorri setzte sich auf die alte Holzbank unter dem Apfelbaum und deutete Smilla, sich zu ihm zu gesellen. "Du bist ein besonderes Kind, Smilla. Deine Augen tragen das Lächeln, das viele suchen, aber nur wenige finden."

Smilla schaute zu den Vögeln hinauf, die fröhlich zwischen den Ästen zwitscherten. "Ich weiß nicht, wie man mit den Lippen lächelt," gestand sie, "aber ich fühle viel Freude in meinem Herzen, und ich glaube, das ist es, was meine Augen zeigen."

"Das ist ein wahres Geschenk," sagte Snorri, "und du weißt, Liebe und Freude sind wie das Licht der Sterne. Sie brauchen keine Worte, um gefühlt zu werden. Deine Augen erzählen Geschichten, die Worte nicht fassen können."

Die beiden saßen eine Weile schweigend da. Sie lauschten der Symphonie des Lebens um sie herum. Dann fragte Smilla, "Snorri, könnten wir heute eine Geschichte teilen? Eine Geschichte, die ich mit meinen Augen erzählen und die du mit deinen Worten malen kannst?"

Snorri lächelte, seine Augen glänzten vor Freude über Smillas Vorschlag. "Natürlich, mein Kind. Lass uns zusammen eine Geschichte erzählen, eine, die so alt ist wie die Zeit selbst und doch immer wieder aktuell, wie neu."

So begann Snorri zu erzählen, seine Worte flossen wie ein sanfter Fluss, während Smillas Augen die Geschichte mit einem unsichtbaren Pinsel malten.

Es war die Geschichte von Ida, einer jungen Frau, die die Gabe besaß, mit Tieren zu sprechen. Ida lebte in einem verborgenen Tal, umgeben von hohen Bergen und dichten Wäldern. Die Menschen des Tals sprachen oft von ihrem besonderen Band zu den Kreaturen des Waldes und wie sie in Harmonie mit der Natur lebte.

Eines Tages kam ein Fremder ins Tal, ein junger Mann namens Arnulf, der von Idas Gabe gehört hatte. Er war gekommen, um von ihr zu lernen, wie man mit den Tieren spricht, in der Hoffnung, dass er dieses Wissen nutzen könnte, um seiner eigenen, vom Krieg geplagten Heimat zu helfen. Arnulf traf Ida, als sie gerade mit einem verletzten Vogel sprach, den sie liebevoll in ihren Händen hielt.

"Ida," begann Arnulf zögerlich, "ich habe von deiner unglaublichen Gabe gehört. Kannst du mir erklären und beibringen, wie man mit den Tieren spricht?"

Ida, mit einem sanften Funkeln in ihren Augen, das Smilla so ähnlich sah, antwortete, "Die Tiere sprechen nicht mit Worten, sondern mit dem Herzen. Man muss zuhören können, nicht nur hören."

Tag für Tag lehrte Ida Arnulf, wie man die leisen Stimmen der Natur versteht. Sie zeigte ihm, wie man die Sprache der Winde entschlüsselt und den Rhythmus der Erde fühlt. Unter ihrer Anleitung lernte Arnulf, dass wahre Kommunikation über das Hören hinausgeht – es war eine Sache des Fühlens, des Mitgefühls und der Geduld.

Während sie die Geschichte erzählten, spiegelte Smillas Gesicht eine Welt voller Wunder wider. Ihre Augen leuchteten vor Staunen und Freude, als ob sie jede Szene, die Snorri beschrieb, vor sich sehen könnte.

Sie malte mit ihren Augen schnell, bewegten sie sich und leuchteten, wie der hellste Stern am Himmelsfirmament.

"Und was ist mit Ida passiert?" fragte Smilla, als Snorri eine Pause machte.

"Ida hat Arnulf nicht nur beigebracht, mit den Tieren zu sprechen, sondern auch, wie wichtig es ist, in Harmonie mit der Welt zu leben. Arnulf nahm dieses Wissen mit zurück in seine Heimat und half den Menschen, wieder Frieden mit der Natur zu schließen," fuhr Snorri fort.

Smilla nickte nachdenklich. "Es ist wie bei mir. Ich spreche nicht mit Worten, aber ich fühle und zeige meine Freude durch meine Augen."

"Genau so ist es, mein Kind. Du und Ida, ihr habt beide eine besondere Gabe. Ihr erinnert die Menschen daran, dass die schönsten Dinge im Leben jenseits von Worten liegen."

Smilla stand auf und blickte in den Himmel, der jetzt in voller Helligkeit erstrahlte. "Ich wünschte, ich könnte Arnulf treffen und ihm zeigen, dass man auch ohne Worte viel ausdrücken kann."

Snorri legte ihre Hand auf Smillas Schulter. "Vielleicht eines Tages, Smilla. Aber bis dahin, teile dein unsichtbares Lächeln mit der Welt. Es ist ein wertvolles Geschenk, das so manches Herz erleuchten kann."

Die Geschichte von Ida und Arnulf verwuchs mit dem Leben von Smilla. Wie Ida hatte sie erkannt, dass Worte nur ein Teil der Kommunikation sind. Es war die Sprache des Herzens, die tiefer ging, die Brücken baute, wo Worte versagten.

Als Snorri nun langsam ging und er bereits seinen Stock hinterher schleifte, hörte Smilla nur noch ein leises “Ein Engel auf Erden hat sein Lächeln, welches versteckt durch den Glanz seiner Augen sichtbar bleibt, denn das Lächeln auf Erden gibt so manch mehr als des Flügels Kraft, auf Erden.”

Nachdem Snorri gegangen war, fühlte Smilla eine tiefe Veränderung in sich. Sie hatte nicht nur Snorris Geschichten und Weisheiten in sich aufgenommen, sondern auch ein neues Verständnis für ihre eigene Gabe gewonnen. Sie war bereit, ihre stille Kraft zu teilen und zu nutzen, um anderen in ihrem Dorf zu helfen und zu inspirieren.

In den Tagen, die folgten, wurde Smilla zum stummen Gesprächspartner für viele im Dorf. Sie ging von Haus zu Haus, ihre Augen sprachen Bände, trösteten die Traurigen, erfreuten die Einsamen. Mit der Zeit begannen die Dorfbewohner zu erkennen, dass wahre Verständigung weit über Worte hinausgeht. Smilla, das stille Kind, wurde zu einem unsichtbaren Leuchtturm der Hoffnung und des Verständnisses. Sie lehrte sie alle, in den Augen des anderen zu lesen, und verwandelte so das ganze Dorf in einen Ort, an dem jedes Lächeln – sichtbar oder unsichtbar – seinen einzigartigen Wert hatte.

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