Empörungsjournalismus – Wenn Berichterstattung zum Zunder wird
Fallstudie Marktstraße Loitz: Wie aus einem einmaligen Vorfall eine dauerhafte Problemerzählung entsteht. Analysiert wird das Zusammenspiel von Medien, Politik und Öffentlichkeit – und die Anforderungen an verantwortliche Berichterstattung.

Kapitel 3: Der mediale Zugriff
Erste Berichte: Auswahl von Sprache, Bildern, Zitaten
Als der Vorfall zum ersten Mal medial aufgegriffen wird, ist er bereits mehrere Wochen alt. Die Berichte beginnen nicht mit einer nüchternen Chronologie, sondern mit einer Stimmungslage. Schon in den einleitenden Sätzen finden sich Worte, die nicht neutral beschreiben, sondern einen Eindruck setzen: „bedrohlich“, „angespannt“, „seit Langem untragbar“.
Statt klarer Fakten treten Gefühle und Einschätzungen in den Vordergrund. Aussagen von Anwohnern werden zitiert, oft anonymisiert, manchmal nur sinngemäß wiedergegeben: „Man fühlt sich nicht mehr sicher.“ oder „So kann es nicht weitergehen.“ Wer dieses „Man“ ist, bleibt offen. Auch wird nicht geprüft, ob diese Aussagen belegbar oder repräsentativ sind. Sie stehen für sich – und entfalten Wirkung, gerade weil sie nicht hinterfragt werden.
Die Bildauswahl folgt einem ähnlichen Muster. Gezeigt werden keine Taten, sondern Kulissen: Fassaden, Hauseingänge, Nahaufnahmen von Fenstern oder Mülltonnen. Die Perspektive ist distanziert, aber suggestiv. Sie rahmt den Ort nicht als zufällige Adresse, sondern als Symbol eines Problems. Nichts im Bild beweist den Vorwurf, aber alles stützt die Stimmung.
In dieser Kombination entsteht ein Eindruck, der über den ursprünglichen Vorfall hinausgeht. Die Sprache greift auf Formulierungen zurück, die Wiederholung ermöglichen: „immer wieder“, „seit Jahren“, „ständig“. Die Bilder bieten dazu die visuelle Fläche. Das Ergebnis ist keine detaillierte Dokumentation, sondern eine Erzählung, die offen genug bleibt, um immer wieder aufgegriffen zu werden.
Auffällig ist, was fehlt: genaue Zeitangaben, klare Ortszuordnungen, das Alter der Beteiligten, der rechtliche Ausgang des Falls. Die Auslassungen sind keine Nebensächlichkeit, sondern Teil der Wirkung. Denn was nicht gesagt wird, kann im Kopf des Publikums mit eigenen Vorstellungen gefüllt werden.
Die ersten Berichte legen damit den Grundton fest. Nicht juristisch, nicht verwaltungstechnisch, sondern atmosphärisch. Sie laden ein, die Marktstraße nicht als konkrete Adresse zu sehen – sondern als Zustand, der Dauer und Dringlichkeit hat.
Konstruktion eines Problemortes
In den ersten Berichten wird die Marktstraße nicht nur als Schauplatz benannt – sie wird zum Sinnbild. Es ist nicht die konkrete Adresse, die problematisiert wird, sondern die Straße als Ganzes. Einzelne Hausnummern, einzelne Bewohner, einzelne Vorkommnisse verschwimmen zu einer Erzählung: „die Marktstraße“.
Das funktioniert über eine gezielte Auswahl von Beobachtungen. Eine Mülltonne, die überquillt. Eine Gruppe Jugendlicher vor einem Eingang. Ein nicht geputztes Fenster. Alltägliche Bilder, die in jedem Straßenzug vorkommen könnten, werden hier nicht als Normalität gezeigt, sondern als Anzeichen für einen Ausnahmezustand. Was zufällig sein könnte, wird als Symptom gelesen.
Hinzu kommt die dramaturgische Rahmung: Die Marktstraße erscheint nicht als Ort mit wechselnden Situationen, sondern als statischer Brennpunkt. Sie hat in dieser Darstellung keine Alltagsszenen, keine Ruhephasen, keine Vielschichtigkeit. Der Blick konzentriert sich auf den vermeintlichen Konflikt – und blendet den Rest aus.
Dabei werden Beobachtungen und Vorfälle aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen miteinander verbunden. Was in einer anderen Straße passiert ist, taucht in der Erzählung neben den Ereignissen in der Marktstraße auf. Was zeitlich weit auseinanderliegt, wird in einen fortlaufenden Rahmen gesetzt. So entsteht der Eindruck eines über Jahre gewachsenen Problems – auch wenn die Belege dafür fehlen.
Die Straße wird so zu einer Chiffre: für Unruhe, für Kontrollverlust, für ein „Anderssein“, das nicht genauer benannt werden muss. Dieser Prozess ist nicht nur eine Frage der Wortwahl, sondern der Wiederholung. Je öfter der Name fällt, desto weniger muss erklärt werden, was damit gemeint ist. Das Wort „Marktstraße“ trägt schließlich die gesamte aufgeladene Erzählung in sich – als Problemort, nicht als realer Straßenabschnitt mit vielen unbeteiligten Bewohnern.
Auslassung von Kontext (Adresse, Zeit, Alter, rechtlicher Stand)
Mindestens so wichtig wie das, was berichtet wird, ist das, was fehlt. In den ersten Berichten zur Marktstraße bleiben entscheidende Informationen außen vor – und genau diese Leerstelle öffnet Raum für Deutungen.
Die Adresse wird nur vage benannt. Statt klar zwischen einzelnen Hausnummern oder Gebäuden zu unterscheiden, ist immer von „der Marktstraße“ die Rede. So werden Häuser, die mit dem Vorfall nichts zu tun haben, unbemerkt in das Problemfeld einbezogen. Eine Straße wird pauschal markiert – und verliert ihre Differenzierung.
Auch der Zeitbezug bleibt unklar. Berichte verknüpfen Ereignisse unterschiedlicher Jahre oder Monate, ohne dies deutlich zu machen. Ein Vorfall vom Februar steht neben einer Aussage aus dem Vorjahr oder einem Bild ohne Datierung. Der Leser erhält so den Eindruck einer anhaltenden Belastung, selbst wenn es sich um einzelne, weit auseinanderliegende Situationen handelt.
Das Alter der Beteiligten wird ebenfalls nicht benannt. Dass die ursprünglich genannten Kinder teils unter 14 Jahre alt sind und damit unter § 19 StGB fallen, taucht in keiner der frühen Darstellungen auf. Ohne diese Information wirkt der Vorwurf schwerwiegender, als er juristisch überhaupt sein könnte.
Schließlich wird auch der rechtliche Ausgang des Vorfalls nicht erwähnt. Weder die Einstellung des Verfahrens mangels strafbaren Sachverhalts noch die Einschätzung der Polizeiinspektion, dass keine Gefährdungslage besteht, finden Platz in den Berichten. Das lässt den Eindruck entstehen, der Fall sei weiterhin offen – und damit potenziell gefährlich.
Diese Auslassungen sind nicht bloße Nebensächlichkeiten. Sie wirken wie Verstärker: Wer den Kontext nicht kennt, füllt die Lücken mit eigenen Vorstellungen. So wird aus einem abgeschlossenen Vorfall eine fortgesetzte Bedrohung – nicht, weil sich etwas Neues ereignet hat, sondern weil das Weggelassene den Boden für Spekulationen bereitet.
Aufbau eines wiederholbaren Narrativs („immer wieder“, „seit Jahren“)
Ein einzelner Vorfall ist überprüfbar. Er lässt sich datieren, dokumentieren, abgleichen. Doch sobald aus diesem einen Ereignis ein Muster konstruiert wird, verschieben sich die Maßstäbe. Genau hier beginnt der Aufbau eines Narrativs, das weniger auf überprüfbaren Fakten beruht als auf sprachlichen Formeln, die Beständigkeit suggerieren.
In den Berichten zur Marktstraße tauchen wiederholt Wendungen auf wie „immer wieder kommt es zu Vorfällen“, „seit Jahren bekannt“ oder „schon lange ein Problem“. Diese Formulierungen sind vage genug, um nicht überprüft werden zu müssen, und vertraut genug, um sofort als wahr empfunden zu werden. Sie verankern die Vorstellung, dass das Geschehen in der Marktstraße nicht Ausnahme, sondern Dauerzustand ist.
Auffällig ist, dass solche Sätze oft ohne konkrete Beispiele stehen. Sie verweisen nicht auf Polizeiberichte, nicht auf Protokolle, nicht auf dokumentierte Zeitreihen. Stattdessen lassen sie die Vergangenheit als fortlaufende Kette erscheinen – und legen damit nahe, dass auch die Zukunft ähnlich aussehen wird.
Diese sprachliche Technik hat eine doppelte Wirkung: Sie entzieht sich der Überprüfung und verstärkt zugleich den Handlungsdruck. Wer hört, dass „seit Jahren“ etwas im Argen liegt, empfindet sofort die Notwendigkeit zu handeln – selbst wenn sich bei genauerem Hinsehen herausstellt, dass es nur wenige, voneinander unabhängige Ereignisse gab.
Mit jeder Wiederholung verfestigt sich das Bild. Politische Akteure, Nachbarn, soziale Medien übernehmen dieselben Begriffe. Die Erzählung beginnt, sich selbst zu bestätigen: Neue Berichte greifen die alten Formulierungen auf, ältere Zitate wirken wie Belege für aktuelle Aussagen. Die Geschichte wird zirkulär – sie bezieht ihre Glaubwürdigkeit nicht aus neuen Fakten, sondern aus der Häufigkeit, mit der sie erzählt wird.
So entsteht ein Narrativ, das dauerhaft anschlussfähig bleibt. Es kann jederzeit wieder aufgegriffen werden, ohne dass ein neuer Vorfall nötig wäre. Allein die Nennung der Straße genügt, um das Bild im Kopf des Publikums zu aktivieren.
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