Empörungsjournalismus – Wenn Berichterstattung zum Zunder wird
Fallstudie Marktstraße Loitz: Wie aus einem einmaligen Vorfall eine dauerhafte Problemerzählung entsteht. Analysiert wird das Zusammenspiel von Medien, Politik und Öffentlichkeit – und die Anforderungen an verantwortliche Berichterstattung.

Kapitel 4: Die Struktur der Empörung
Emotionalisierung: Angst, Bedrohung, Ausnahmezustand
Empörung entfaltet ihre größte Wirkung dort, wo sie Gefühle anspricht, bevor Fakten wirken können. In der Erzählung über die Marktstraße wird diese Mechanik konsequent genutzt: Nicht juristische Bewertungen oder konkrete Zahlen prägen das Bild, sondern Stimmungen – und diese sind vor allem von Angst und Bedrohung geprägt.
Die Sprache der Berichte ist dabei entscheidend. Es tauchen Begriffe auf wie „unhaltbare Zustände“, „dauerhafte Belastung“, „rechtsfreier Raum“ oder „Sicherheitslücke“. Keiner dieser Begriffe beschreibt einen konkreten Tatbestand. Sie verweisen auf ein Gefühl, das nicht gemessen, aber sofort verstanden werden kann: Hier stimmt etwas nicht, und es ist gefährlich.
Zitate von Anwohnern verstärken diesen Eindruck: „Ich gehe abends nicht mehr allein raus.“ – „Wir fühlen uns nicht mehr sicher.“ Diese Aussagen bleiben unkommentiert, es gibt keine Nachfrage nach konkreten Anlässen oder zeitlichen Bezügen. Sie stehen für sich – und gerade diese Ungeprüftheit verleiht ihnen Wirkung: Sie sind authentisch, weil sie emotional sind – und sie werden nicht hinterfragt, weil sie in das bestehende Bild passen.
Auch visuelle Mittel tragen zur Emotionalisierung bei. Fotos von Hauseingängen im Halbdunkel, Nahaufnahmen von Mülltonnen oder Fenstern mit herabgelassenen Rollos schaffen eine Kulisse, die keinen Beweis liefert, aber eine Stimmung erzeugt. Die Botschaft lautet nicht: „Hier ist etwas passiert“, sondern: „Hier könnte jederzeit etwas passieren.“
Besonders wirkungsvoll ist die implizite Gleichsetzung von Anwesenheit und Bedrohung. Schon das Bild einer Gruppe Kinder oder Jugendlicher vor einem Hauseingang kann – in diesem Kontext – als Warnsignal gelesen werden. Die ursprüngliche Frage, ob ein konkreter Schaden entstanden ist, tritt in den Hintergrund. Entscheidend ist das Gefühl, dass eine Gefahr besteht – unabhängig davon, ob sie real oder eingebildet ist.
So entsteht ein Zustand, der als „Ausnahme“ beschrieben wird, obwohl er im Alltag der Stadt keine Entsprechung findet. Angst und Bedrohung werden nicht als individuelle Wahrnehmungen dargestellt, sondern als kollektive Erfahrung – ein „Wir“, das sich gegen ein „Sie“ abgrenzt. Genau in dieser gefühlten Spaltung findet die Empörung ihren stabilsten Nährboden.
Rollenzuweisung: Täter – Opfer – Zuschauer
Sobald eine Erzählung emotional aufgeladen ist, verlangt sie nach klaren Rollen. In der Darstellung der Marktstraße ist diese Rollenverteilung von Anfang an angelegt – nicht durch formale Beschuldigung, sondern durch wiederkehrende sprachliche und bildliche Muster.
Die Täterrolle wird einer Gruppe zugeschrieben, die nicht namentlich genannt, aber eindeutig markiert wird: einer migrantisch gelesenen Hausgemeinschaft. Ihre Lebensweise wird als fremd, unkontrollierbar oder störend beschrieben. Die Vorwürfe bleiben unscharf – von „Respektlosigkeit“ über „Lärmbelästigung“ bis zu Andeutungen von Aggression – und sind selten mit konkreten Belegen unterfüttert. Die Konstruktion dieser Rolle erfolgt weniger über Fakten als über Wiederholung und den impliziten Hinweis: „Jeder weiß, um wen es geht.“
Die Opferrolle nehmen die als „alteingesessen“ beschriebenen Anwohner ein, die in Berichten und Zitaten den Ton setzen. Sie sprechen nicht nur für sich, sondern im Namen eines vermeintlichen „Wir“: „Wir halten das nicht mehr aus.“, „Wir fühlen uns allein gelassen.“ Ihre Aussagen werden kaum hinterfragt, sondern als kollektive Erfahrung präsentiert. So entsteht der Eindruck einer homogenen Betroffenheit.
Die Zuschauerrolle wird den Institutionen zugeschrieben – Stadtverwaltung, Polizei, Sozialarbeit. Sie erscheinen nicht als handelnde Akteure, sondern als passive Beobachter. Begriffe wie „Wegsehen“ oder „Untätigkeit“ rahmen ihr Bild. Auch hier gilt: Die Darstellung berücksichtigt selten die tatsächlichen Abläufe oder rechtlichen Grenzen. Entscheidend ist die Wahrnehmung, dass „die da oben“ nicht reagieren.
Diese Dreiteilung ist dramaturgisch wirksam: Sie vereinfacht komplexe Verhältnisse, ermöglicht klare Parteinahme und hält die Erzählung stabil. Wer sich mit den Opfern identifiziert, wird die Täter meiden und die Zuschauer kritisieren. Wer den Tätern zugerechnet wird, ist automatisch in der Defensive – unabhängig von seiner tatsächlichen Rolle oder Handlung.
Ausgrenzung: keine Stimme der Betroffenen
In der gesamten medialen Erzählung über die Marktstraße bleibt auffällig: Die Menschen, um die es eigentlich geht, kommen selbst kaum oder gar nicht zu Wort. Sie sind Gegenstand der Berichterstattung, nicht deren Akteure. Über sie wird gesprochen, für sie wird interpretiert – aber ihre eigene Sicht bleibt unsichtbar.
Diese Auslassung ist nicht nur ein Nebenprodukt der Darstellung, sondern ein zentraler Bestandteil ihrer Wirkung. Denn wer nicht spricht, kann sich nicht verteidigen. Wer nicht zitiert wird, kann die Geschichte nicht korrigieren. So entsteht ein Vakuum, das andere füllen: Nachbarn, Lokalpolitiker, Journalisten – alle treten als Deuter auf, während die Betroffenen selbst zum stummen Objekt werden.
Gelegentlich tauchen sie indirekt auf – als anonyme Gruppenbezeichnung („Großfamilie“), als Bild im Hintergrund oder als Teil einer statistischen Kategorie („Bewohner mit Migrationshintergrund“). Doch diese Erwähnungen sind abstrakt, nicht persönlich. Sie lassen keinen individuellen Menschen erkennen, keine Biografie, keine Stimme, die von Alltag, Sorgen oder Erfahrungen erzählt.
Das Fehlen dieser Perspektive erleichtert, die Gruppe homogen darzustellen, Unterschiede zu verwischen, Einzelfälle zu verallgemeinern. Es macht die Konstruktion der Täterrolle stabiler, weil keine Gegenerzählung in die Öffentlichkeit gelangt. Und es verstärkt den Eindruck, dass „diese Menschen“ entweder nichts zu sagen hätten – oder dass ihr Wort ohnehin nicht zählt.
Wiederholung: gleiche Begriffe, gleiche Formulierungen, keine Überprüfung
Ein wesentlicher Treiber der Empörungsdynamik ist die ständige Wiederholung. Begriffe, die einmal gesetzt wurden, tauchen in nahezu identischer Form immer wieder auf – in Artikeln, in politischen Reden, in sozialen Medien, in Gesprächen auf der Straße. Mit jeder Wiederholung verstärkt sich ihre Wirkung, auch wenn sie nie mit neuen Belegen unterfüttert werden.
Typische Formulierungen in der Marktstraßen-Erzählung sind etwa: „Seit Jahren bekannt“, „immer wieder Probleme“, „massive Belastung für die Anwohner“, „keine Reaktion der Behörden“. Solche Sätze stehen oft für sich – ohne konkrete Daten, ohne dokumentierte Ereignislisten, ohne Angabe, wann und wo genau diese Probleme aufgetreten sein sollen.
Die Wiederholung erfüllt mehrere Funktionen:
- Sie ersetzt den Beweis – was oft genug gesagt wird, wirkt wie eine anerkannte Tatsache.
- Sie hält das Thema präsent – selbst ohne neue Vorfälle bleibt das Bild aktuell.
- Sie erleichtert politische Anschlussfähigkeit – weil klar ist, welche Begriffe verstanden werden, ohne dass man sie erklären muss.
Mit der Zeit löst sich die Sprache fast vollständig vom ursprünglichen Vorfall. Der Auslöser – ein einmaliges, rechtlich unbedeutendes Ereignis – verschwindet aus dem Blick. Übrig bleibt ein stabiler, jederzeit abrufbarer Problemrahmen, den nur wenige in Frage stellen.
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