Empörungsjournalismus – Wenn Berichterstattung zum Zunder wird
Fallstudie Marktstraße Loitz: Wie aus einem einmaligen Vorfall eine dauerhafte Problemerzählung entsteht. Analysiert wird das Zusammenspiel von Medien, Politik und Öffentlichkeit – und die Anforderungen an verantwortliche Berichterstattung.

Kapitel 7: Reflexion: Journalistische Verantwortung
Fehlende Prüfung vs. bewusste Zuspitzung
In der Betrachtung des Falls Marktstraße stellt sich eine zentrale Frage: Entsteht eine verzerrte Darstellung durch Nachlässigkeit – oder durch Absicht? Die Antwort ist selten eindeutig, doch sie entscheidet wesentlich darüber, wie wir journalistische Verantwortung bewerten.
Fehlende Prüfung kann viele Gründe haben. Im lokalen Journalismus sind Ressourcen oft knapp, Redaktionen arbeiten unter Zeitdruck, und die Möglichkeit, jede Aussage zu verifizieren, ist begrenzt. Wer auf Augenzeugen, Politiker oder Nachbarn als Hauptquellen angewiesen ist, übernimmt schnell deren Wortwahl – oft ohne böse Absicht, aber auch ohne gründliche Gegenrecherche. So entstehen Berichte, die zwar formal korrekt sind, aber ein unausgewogenes Bild zeichnen, weil kritische Lücken nicht gefüllt wurden.
Bewusste Zuspitzung hingegen ist eine strategische Entscheidung. Sie zielt darauf, Aufmerksamkeit zu erzeugen – sei es, um Leserzahlen zu steigern, politische Themen zu platzieren oder eine bestimmte Debatte anzustoßen. Dabei werden einzelne Aspekte betont, andere bewusst ausgelassen. Die Erzählung wird so gestaltet, dass sie maximale Reaktion auslöst: Empörung, Zustimmung, Ablehnung. Diese Form des Journalismus verlässt den Anspruch nüchterner Information und nähert sich dem Bereich der Inszenierung.
Im Fall Marktstraße ist beides denkbar – und vermutlich beides vorhanden. Einzelne Formulierungen und Bildauswahlen deuten auf eine klare Dramatisierungsabsicht hin. Gleichzeitig zeigen sich Anzeichen unvollständiger Recherche: fehlende juristische Einordnung, keine Nachfrage bei den Betroffenen, unklare Zeit- und Ortsangaben.
Für die journalistische Verantwortung macht dieser Unterschied dennoch wenig aus. Ob ein einseitiges Bild aus Eile oder Kalkül entsteht – seine Wirkung ist dieselbe: Es prägt die öffentliche Wahrnehmung, beeinflusst politische Entscheidungen und kann das Leben einzelner Menschen nachhaltig verändern.
Deshalb ist es nicht nur eine Frage der Absicht, sondern vor allem der Wirkung. Je größer der mögliche Schaden, desto sorgfältiger muss gearbeitet werden – selbst, wenn Zeit und Ressourcen knapp sind.
Der Unterschied zwischen Berichten und Erzählen
Berichten und Erzählen sind im Journalismus eng verwandt – und doch grundverschieden in ihrer Wirkung. Wer berichtet, stellt Fakten dar: geordnet, überprüft, mit klaren Quellenangaben. Wer erzählt, schafft einen Zusammenhang: Er wählt aus, ordnet an, setzt Schwerpunkte – und verleiht den Fakten damit Bedeutung.
Berichten folgt dem Anspruch, möglichst vollständig und korrekt zu informieren. Es hält sich an überprüfbare Daten, nennt Zeit, Ort, Beteiligte und rechtliche Einordnung. Es gibt dem Publikum alle notwendigen Bausteine, um sich selbst ein Bild zu machen – auch dann, wenn dieses Bild nicht der vom Autor bevorzugten Deutung entspricht.
Erzählen hingegen arbeitet stärker mit Dramaturgie. Es kann Lücken lassen, um Spannung zu erzeugen, und ordnet Ereignisse so, dass sie einer bestimmten Linie folgen. Erzählen ist nicht per se manipulativ – es ist eine menschliche Form der Sinnstiftung. Aber im Journalismus trägt es ein Risiko: Je stärker die Erzählung von der reinen Faktendarstellung abweicht, desto größer ist die Gefahr, dass sie ein Eigenleben entwickelt, losgelöst von der tatsächlichen Grundlage.
Im Fall Marktstraße ist dieser Unterschied entscheidend. Die Berichte hätten nüchtern festhalten können: „Ein einmaliger Vorfall am 4. Februar, ohne strafrechtliche Folgen, keine weiteren Ereignisse.“ Das wäre ein Bericht gewesen. Stattdessen entstand eine Erzählung: „Seit Jahren problematisch, immer wieder Vorfälle, gefährliche Entwicklung.“ Diese Erzählung verknüpfte einzelne Bilder und Aussagen so, dass ein fortdauernder Ausnahmezustand plausibel wirkte – obwohl er sich faktisch nicht belegen ließ.
Der Übergang vom Berichten zum Erzählen ist oft fließend und passiert nicht immer bewusst. Doch die Wirkung ist gravierend: Während Berichte die Realität abbilden, formen Erzählungen eine Realität. Und genau hier liegt die Verantwortung des Journalismus – nicht jede Story, die sich gut erzählen lässt, entspricht dem, was sich tatsächlich zugetragen hat.
Wie mit Unsicherheit, Ambivalenz, Lücken umgehen?
Jeder journalistische Text bewegt sich zwischen dem, was sicher belegt ist, und dem, was noch unklar bleibt. Vollständige Gewissheit gibt es selten – besonders dann, wenn Ereignisse schnell berichtet werden müssen, die Informationen aus unterschiedlichen Quellen stammen oder rechtlich sensibel sind. Die Frage ist daher nicht, ob Lücken existieren, sondern wie offen mit ihnen umgegangen wird.
Unsicherheit lässt sich benennen, ohne den Informationswert zu verlieren. Formulierungen wie „nach bisherigen Erkenntnissen“, „laut Angaben der Polizei“ oder „dies konnte bislang nicht bestätigt werden“ signalisieren, dass die Recherche im Fluss ist. Sie geben dem Leser die Möglichkeit, den Stand der Dinge einzuschätzen – und verhindern, dass vorläufige Annahmen als gesicherte Tatsachen gelesen werden.
Ambivalenz ist kein Makel, sondern Teil der Wirklichkeit. Unterschiedliche Sichtweisen, widersprüchliche Erzählungen und sich wandelnde Einschätzungen gehören zum Alltag, besonders in sozialen Konflikten. Wer diese Gegensätze nebeneinanderstellt, anstatt sie zu glätten, vermittelt ein realistischeres Bild – auch wenn es weniger klar und „rund“ wirkt.
Lücken sind unvermeidlich, aber gefährlich, wenn sie verschwiegen werden. Denn was der Bericht nicht füllt, füllt das Publikum mit eigenen Vorstellungen – und diese orientieren sich oft an bekannten Mustern oder Vorurteilen. Deshalb ist es besser, fehlende Informationen klar zu benennen, als sie stillschweigend wegzulassen.
Im Fall Marktstraße hätte dies bedeutet: klar zu sagen, dass der Vorfall vom 4. Februar 2025 rechtlich abgeschlossen ist, dass keine Wiederholungstaten vorliegen und dass die Wahrnehmung der Straße als „Brennpunkt“ auf subjektiven Einschätzungen basiert. So wäre deutlich geworden, welche Teile der Erzählung auf überprüfbaren Fakten beruhen – und welche auf Wahrnehmung, Vermutung oder Stimmung.
Der verantwortungsvolle Umgang mit Unsicherheit, Ambivalenz und Lücken ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Transparenz. Er schützt nicht nur die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung, sondern auch die Menschen, über die berichtet wird.
Anforderungen an Berichterstattung im Umgang mit sozialen Spannungen
Soziale Spannungen sind für den Journalismus eine besondere Herausforderung: Sie berühren das Zusammenleben unmittelbar, sind oft emotional aufgeladen und bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für Deutungen – und damit auch für Missverständnisse oder gezielte Verzerrungen. Wer in diesem Feld berichtet, trägt deshalb eine doppelte Verantwortung: die gegenüber der Wahrheit und die gegenüber dem sozialen Gefüge.
- Präzision vor Dramatik
Je sensibler die Lage, desto wichtiger ist es, sprachlich exakt zu arbeiten. Begriffe wie „Brennpunkt“, „rechtsfreier Raum“ oder „Massenschlägerei“ dürfen nicht ohne klare, belegbare Grundlage verwendet werden. Sie haben nicht nur Nachrichtenwert, sondern prägen das Bild einer ganzen Gemeinschaft. - Kontext sichtbar machen
Einzelereignisse müssen in Relation zur Gesamtlage gesetzt werden. Das bedeutet: Zeitliche Abstände, Häufigkeit, rechtlicher Stand und statistische Vergleichswerte gehören in die Darstellung. Ohne diesen Rahmen wird jedes Ereignis schnell zum vermeintlichen Beleg für einen Dauerzustand. - Mehrstimmigkeit zulassen
Gerade in Konfliktlagen ist es entscheidend, dass alle relevanten Perspektiven gehört werden – auch die derjenigen, die im öffentlichen Diskurs selten zu Wort kommen. Dazu gehört aktive Kontaktaufnahme mit Betroffenen, nicht nur mit offiziellen Vertretern oder lautstarken Kritikern. - Trennung von Bericht und Kommentar
Information und Bewertung müssen klar erkennbar bleiben. Wer kommentiert, darf zuspitzen – muss dies aber kenntlich machen. Wer berichtet, sollte Wertungen vermeiden und die Fakten so vollständig wie möglich darlegen. - Transparenz über Lücken und Unsicherheiten
Unvollständige Informationen sollten offen benannt werden. Das schützt vor Spekulationen und signalisiert dem Publikum, dass der Stand der Erkenntnisse nicht endgültig ist. - Folgenabschätzung
Vor Veröffentlichung sollte bedacht werden, welche sozialen Effekte die Berichterstattung haben kann. Das bedeutet nicht, unbequeme Wahrheiten zu verschweigen – wohl aber, unnötige Pauschalisierungen oder identifizierende Details zu vermeiden, wenn sie keinen zusätzlichen Informationswert haben.
Im Kern geht es darum, in angespannten Situationen nicht Öl ins Feuer zu gießen, sondern einen Beitrag zur Klärung zu leisten. Das schließt nicht aus, Missstände klar zu benennen – verlangt aber, dies so zu tun, dass Debatten auf einer belastbaren Grundlage geführt werden können.
Im Fall Marktstraße wäre genau dieser Ansatz entscheidend gewesen: weniger Dramatisierung, mehr Kontext; weniger Andeutung, mehr Nachweis; weniger Reden über, mehr Reden mit den Menschen, um die es geht.
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