Pädagogischer Rahmen: Selbst sichtbar werden - statt dargestellt sein

„Pädagogischer Rahmen – Selbst sichtbar werden - statt dargestellt sein“ ist ein zeitgemäßes Lehrformat für alle, die Wahrnehmung schulen, Räume öffnen und Gestaltung als Spur des Denkens begreifen. Acht Kapitel, Übungen, Reflexionen – und ein Gedanke, der bleibt. Im Sinne von Catharine Remberts Lehre.

Apr 24, 2025 - 18:35
Apr 24, 2025 - 19:07
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Kapitel 3: Die Form als Beziehung
Im Zwischenraum der Entscheidung – Wahrnehmung als Begegnung mit sich selbst im gestalterischen Dialog von Licht, Form und Schatten
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Kapitel 3: Die Form als Beziehung

Ein Fokus auf Resonanz, Zusammenspiel und gestalterisches Miteinander

Nichts steht isoliert in der Welt. Jede Form steht in Beziehung zu anderen. Catharine Remberts Methode betonte stets diese Verbundenheit. Wenn wir eine Form setzen, müssen wir ihre Nachbarschaft bedenken. Wie wirkt sie neben anderen? Welche Resonanz erzeugt sie? Gestaltung wird zur Kunst der Beziehungen, zur sensiblen Wahrnehmung des Zusammenspiels von Elementen.

Oft glauben wir, wir „gestalten etwas“. Doch in Wahrheit gestalten wir immer auch den Raum, in dem dieses Etwas wirkt – und wie es sich zu anderem verhält. Eine runde Form neben einer eckigen verändert unsere Wahrnehmung. Zwei gleich große Formen in unterschiedlichem Abstand erzeugen Rhythmus. Asymmetrie kann Unruhe bedeuten, Symmetrie Stille.

In einer Übung arbeiten wir mit ausgeschnittenen Papierformen oder digitalen Shapes. Sie werden nicht einfach abgelegt, sondern zueinander positioniert – mal nah, mal versetzt, mal überlappend. Es geht nicht darum, ein schönes Bild zu machen. Es geht darum zu spüren: Wann entsteht Spannung? Wann tritt Harmonie ein? Und was passiert, wenn ich eine Form leicht drehe oder verschiebe?

Manche Anordnungen scheinen zu sprechen. Andere scheinen sich gegenseitig zu übertönen. Eine Teilnehmerin formulierte es so:

„Ich habe gemerkt, dass meine Form erst wirklich da ist, wenn sie die andere anschaut.“

Diese Art zu sehen bedeutet, Gestaltung als Beziehungsarbeit zu verstehen. Ich setze nicht einfach etwas in den Raum. Ich reagiere auf das, was schon da ist – und setze etwas hinzu. Diese Haltung schult nicht nur die Augen, sondern auch das Denken: Gestalten heißt zuhören. Und antworten.

Digitale Tools wie browserbasierte Whiteboards oder kollaborative Kompositionsplattformen können diesen Dialog sichtbar machen: Viele gestalten gleichzeitig am selben Feld. Jeder Eingriff verändert das Ganze. Gestaltung wird zur sozialen Geste – nicht zum individuellen Ausdruck.

Aufgabenstellung: Form-Komposition als Beziehungsgeste

Ziel:
Erstelle eine kleine Komposition aus 2–5 einfachen Formen. Das Augenmerk liegt nicht auf den Formen selbst, sondern auf dem Zusammenspiel: auf Nähe, Abstand, Größe, Ausrichtung und Wirkung. Arbeite analog (Papier, Pappe) oder digital (Grafikprogramm, AR-Plattform).

Reflexionsfragen:

  • Welche Form hat wann die stärkste Präsenz?

  • Wie verändert sich die Wirkung, wenn du eine Form drehst oder nur leicht verschiebst?

  • Wo entstehen „Beziehungslinien“, wo entsteht Leere?

  • Welche Form reagiert – welche führt?

Dokumentation: Arbeite in mehreren Variationen. Fotografiere, notiere, benenne. Vielleicht entsteht eine Serie – oder eine einzige Konstellation, die bleibt.

Lernziele

  • Relationales Sehen stärken: Formen nicht isoliert, sondern im Verhältnis zueinander betrachten.

  • Gestalterisches Feingefühl entwickeln: Achtsamkeit für Balance, Spannung, Dichte und Rhythmus.

  • Entscheidungsprozesse transparent machen: Jede Veränderung bewusst beobachten und reflektieren.

  • Soziales Gestalten erproben: Gestaltung als Rückkopplung mit anderen, statt nur als Ausdruck des eigenen Willens.

Pädagogische Prinzipien

  • Beziehung statt Beherrschung: Gestaltung wird nicht „über“ das Material gebracht, sondern entsteht in Resonanz damit.

  • Sensibilisierung durch Variation: Wiederholte Veränderung kleiner Parameter fördert tiefes Sehen.

  • Beschreibende Sprache fördern: In der Rückschau werden Beobachtungen geteilt – nicht Urteile gefällt.

  • Teilhabe sichtbar machen: Die Wirkung einer Form ist nicht unabhängig – sie entsteht im Zusammenspiel.

Mögliche Lernmethoden

Einzelarbeit im Atelier - Aus einfachen Materialien – Papierstücke, Farbflächen, Fundobjekte – werden Formen ausgeschnitten und auf einer Fläche arrangiert. Auf dem Tisch. An der Wand. Es geht nicht um das Endbild, sondern um das Sehen im Prozess: Was passiert, wenn ich verschiebe? Was zeigt sich im Abstand? Die Komposition wird fotografiert, reflektiert – nicht bewertet.

Partnerübung / Dialogform - Zwei Personen arbeiten abwechselnd an derselben Fläche. Eine Form wird gesetzt – dann reagiert die andere. Ohne zu sprechen entsteht ein gestalterischer Dialog. Was entsteht durch das Gegenüber? Wo entsteht Spannung? Wo Rückzug? Eine Form antwortet auf die andere – wie in einem stillen Gespräch.

Digital / Online - In einem geteilten Whiteboard-Raum gestalten mehrere Personen gleichzeitig. Formen werden platziert, verschoben, ergänzt – jede Handlung verändert das Ganze. Screenshots dokumentieren den Prozess, Audioaufnahmen begleiten die Reflexion. Gestaltung wird hier zur gemeinsamen Praxis: sichtbar, dialogisch, offen.

Raumgreifendes Arbeiten - Der Raum selbst wird zur Fläche. Objekte – Kissen, Stühle, Steine – werden so angeordnet, dass sie in Beziehung treten. Es entsteht keine Collage auf Papier, sondern eine Konstellation im Raum. Die Betrachtung erfolgt gehend, fühlend, aus verschiedenen Blickwinkeln. Die Dokumentation: fotografisch, skizzenhaft, erzählend.

Zum Weiterdenken

Beziehungen sind nicht nur etwas, das „zwischen Menschen“ stattfindet. Sie zeigen sich auch zwischen Formen, Farben, Klängen, Gedanken. Wer lernt, in Beziehungen zu denken, entwickelt eine andere Form von Bewusstsein – eine, die nicht beherrschen will, sondern antworten kann. Die Form fragt – und du antwortest mit einer anderen. Dazwischen entsteht Bedeutung.

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